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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0055
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36 Der Fall Wagner

nehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten —, ihre Aufgabe, ihre
harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Auf-
gabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein."
12, 23-25 Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen einge-
weihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner?] Der Satz spielt
mit der mythologischen Vorstellung von der Unterwelt, wo die Seelen der Ver-
storbenen eines Führers, eines ipvxonopnoq, eines „Seelengeleiters" bedürfen.
„Psychopompos" war der Beiname des Hermes, der in der griechischen Mytho-
logie die Aufgabe des Seelengeleiters übernahm. Das Wort „Seelenkündiger"
kommt bei N. nur hier vor; es fehlt auch bei Grimm 1854-1971, obwohl es im
19. Jahrhundert einige Male belegt ist (z. B. [Bouterweck] 1805, 20: „Erfahrungs-
Seelenkündiger"; Eye 1863, VII: „Herzens- und Seelenkündiger der Gegen-
wart"). Offenbar ist in 12, 25 nicht nur ein Seelenkundiger gemeint, sondern
jemand, der von dieser labyrinthischen modernen Seele kündigt, was Wagner
eben in seinem Werk tue. Den idealen Leser charakterisiert im Vorwort zu
Antichrist, KSA 6, 167, 16 f. „die Vorherbestimmung zum Labyrinth"; in 12, 23-
25 zeichnet es den „Philosophen" aus, das Labyrinth der Seele zu erkunden,
wie einst Theseus das Labyrinth des Minotauros erkundet haben soll.
12, 23 f. Labyrinth der modernen Seele] Zum französischen Ausdruck „äme
moderne", den N. in JGB 254 und in NW Wohin Wagner gehört von Paul Bour-
get aufgreift, siehe NK KSA 6, 428, 2. Jedoch ist der deutsche Ausdruck
„moderne Seele" bei N. längst vor seinen französischen Lektüren präsent, und
zwar schon da fast durchgehend mit kritischem Akzent. In UB III SE 2, KSA 1,
345, 29-31 geißelt er die „Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie
verurtheilt unfruchtbar und freudelos zu sein", während er in JGB 22, KSA 5,
37, 8 f. die „demokratischen Instinkte[.] der modernen Seele" problematisiert.
„Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher
hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns
,moderne Seelen' aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir
selbst sind eine Art Chaos" (JGB 224, KSA 5, 158, 7-11). N. versäumt es aller-
dings nicht, darin auch eine Chance für den „Geist" zu sehen. Im Nachlass
finden sich mehrfach Notate, die nahelegen, N. habe der „modernen Seele"
eine eigene Schrift oder zumindest einen „Anhang" widmen wollen (z. B. NL
1885, KSA 11, 36[1], 548, 5-7 oder KSA 11, 36[60], 573 = KGW IX 4, W II 4, 2,
18). An anderer Stelle sieht N. die „moderne Seele" bereits bei Sokrates ange-
legt (NL 1884, KSA 11, 25[103], 37, 22-26). Exemplarisch vollzieht N. diese Kritik
der modernen Seele dann an Sokrates in GD Das Problem des Sokrates, KSA
6, 67-73 sowie an Wagner in den beiden Anti-Wagner-Schriften von 1888. JGB
254, KSA 5, 198, 29-31 benutzte bereits Wagner als Exemplifikationsgröße: „je
 
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