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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0063
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44 Der Fall Wagner

bevorzugte Strategie, mit den Widrigkeiten des Daseins umzugehen: „Und
wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat,
läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise." (Za IV
Vom höheren Menschen 17, KSA 4, 366, 3-5) Die „leichten Füsse" gelten dem
späten N. entsprechend als „typisch [...] für den Typus Zarathustra" (EH Za 6,
KSA 6, 344, 11-13, vgl. auch das Motiv der Eidechse bei N., dazu z. B. NK KSA
6, 329, 24-330, 3).
13, 25 f. Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch] Im Klavierauszug zu Car-
men, den N. mit Marginalien (für Heinrich Köselitz) versehen hat (Carmen.
Dramma lirico in 4 atti. Riduzione per canto et pianoforte, Milano o. J.), notiert
er zu Carmens „Wenn dir die Karten einmal bittr'es Unheil" im Terzett des
3. Aktes: „Fatalistische Musik des G. Bizet" (Daffner o. J., 53) und zum plötzlich
darin erklingenden Dur-Akkord: „Dieses Dur ist ganz schauerlich." (Ebd., 55)
Zum folgenden pezzo concertato „Ach die Zöllner sind nur Sünder" vermerkt
N.: „Vom ,Glück der Bösen'. Klingt herrlich." Mit „Glück der Bösen" ist M
256, KSA 3, 208, 11 überschrieben.
14, 1 f. damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur „unendli-
chen Melodie"] Zur polypischen Natur des Menschen äußert sich N. in M 119,
KSA 3, lll f. Inspiration zu seiner zoologischen Polypen-Kenntnis konnte N.
beispielsweise bei Lange 1866, 409 (u. 1887, 582) sowie bei Spencer und Espi-
nas gefunden haben (vgl. Fornari 2009, 116). Polyp kann freilich auch eine
geschwulstartige Gewebewucherung bezeichnen. Einen polypischen Charakter
der Musik beschwört der Protagonist in Denis Diderots Le neveu de Rameau,
den N. aus Goethes Übersetzung kannte (vgl. NL 1873, KSA 7, 29[6], 622, 26-
28): „Ebensogern componirte ich die Maximen des Rochefoucault und die
Gedanken des Pascal. Der thierische Schrei der Leidenschaft hat die Reihe zu
bezeichnen, die uns frommt. Diese Ausdrücke müssen übereinander gedrängt
seyn, die Phrase muß kurz seyn, der Sinn abgeschnitten, schwebend, damit
der Musiker über das Ganze sowohl wie über die Theile herrsche, ein Wort
auslasse oder wiederhole, eins hinzufüge, das ihm fehlt, das Gedicht wenden
und umwenden könne, wie einen Polypen, ohne das Gedicht zu zerstören."
(Goethe 1856b, 29, 292; Seite mit Eselsohr markiert).
Die „unendliche Melodie" als Stilmittel (den Ausdruck prägte Wagner 1860
in Zukunftsmusik) bezeichnet die melodisch ununterbrochene Orchesterbeglei-
tung einer dramatischen Szene. Schon früh stand N. ihr ambivalent gegenüber:
„(Die unendliche Melo)die — man verliert das Ufer, überlässt sich den
Wogen." (NL 1877, KSA 8, 22 [3], 379) Damit nimmt N. direkt die Kennzeichnung
Wagners auf — und zwar jene einzige Stelle, an der Wagner in seinen Schriften
den Begriff der unendlichen Melodie gebraucht: „Wo also selbst der Symphoni-
 
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