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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0064
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Stellenkommentar WA 1, KSA 6, S. 13-14 45

ker noch mit Befangenheit zur ursprünglichen Tanzform zurückgriff, und nie
selbst für den Ausdruck ganz die Grenzen zu verlassen wagte, welche ihn mit
dieser Form im Zusammenhang hielten, da wird ihm nun der Dichter zurufen:
,Stürze dich zaglos in die vollen Wogen des Meeres der Musik [...] Spanne deine
Melodie kühn aus, daß sie wie ein ununterbrochener Strom sich durch das
ganze Werk ergießt: in ihr sage du, was ich verschweige, weil nur du es sagen
kannst, und schweigend werde ich Alles sagen, weil ich dich an der Hand
führe.' / In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermes-
sen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns
sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen
Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens
ist die unendliche Melodie" (Wagner 1871-1873, 7, 171 f. = Wagner 1907, 7,
129 f.).
In MA II VM 113, KSA 2, 424, 25-28 überträgt N. den Begriff der unendli-
chen Melodie auf die Schreibtechnik von Laurence Sterne, „wenn mit diesem
Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form
fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt
wird, so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet". Analytisch ist
die Wortverwendung auch in MA II VM 134, KSA 2, 434, 26-435, 3: „Richard
Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt,
dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist diess das Wesent-
lichste aller seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen
entsprungen und angepasst — die ,unendliche Melodie' — bestrebt sich alle
mathematischen Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen, mitunter selbst zu
verhöhnen, und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche
dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen." Sehr
viel schärfer klingt dann die Bemerkung in NL 1887, KSA 12, 10[155], 543 über
Wagners Wirkungsmittel, die den Mitteln eines Hypnotiseurs glichen, und zu
denen auch der „Hysterismus seiner ,unendlichen Melodie'" (KSA 12, 543,
21 f. = KGW IX 6, W II 2, 38, 17-22) gerechnet wird. In einem Brief an Carl Fuchs
von Mitte April 1886 heißt es folgerichtig: „Das Wagnerische Worte ,unendliche
Melodie' drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben,
das gute Gewissen dabei allerliebst aus." (KSB 7, Nr. 688, S. 176, Z. 28-30)
Wagner benutzte das Mittel der „unendlichen Melodie" seit Tristan und Isolde
(1857-1859), während in Bizets Carmen auf Grundlage der älteren Operntradi-
tion Arie, Ensemble und Sprechgesang noch voneinander abgehoben erschei-
nen.
14, 2 f. Hat man je schmerzhaftere tragische Accente auf der Bühne gehört?]
Vgl. N.s Brief an Lou von Salome, 26. 09. 1882, KSB 6, Nr. 311, S. 266, Z. 32-35:
„Ich lege einen Ausschnitt aus einer Berliner Zeitung bei, interessant wegen
 
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