Stellenkommentar WA 3, KSA 6, S. 17 57
nach dem Tode genährt worden, zu dem Verlangen nach einem Neuen, Unbe-
kannten, noch nicht sichtbar Vorhandenen, aber im Voraus Empfundenen,
gesteigert. Diesen ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen wir im Mythos des
fliegenden Holländers, diesem Gedichte des Seefahrervolkes aus der weltge-
schichtlichen Epoche der Entdeckungsreisen. Wir treffen auf eine, vom Volks-
geiste bewerkstelligte, merkwürdige Mischung des Charakters des ewigen
Juden mit dem des Odysseus. Der holländische Seefahrer ist zur Strafe seiner
Kühnheit vom Teufel [...] verdammt, auf dem Meere in alle Ewigkeit rastlos
umherzusegeln. Als Ende seiner Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros, den
Tod; diese, dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer
aber gewinnen durch — ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehn-
sucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dieß Weib
ist aber nicht mehr die heimathlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des
Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene,
ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, — sage ich es mit einem Worte
heraus: das Weib der Zukunft. / Dieß war der ,fliegende Holländer', der
mir aus den Sümpfen und Fluthen meines Lebens so wiederholt und mit so
unwiderstehlicher Anziehungskraft auftauchte: das war das erste Volksge-
dicht, das mir tief in das Herz drang, und mich als künstlerischen Menschen
zu seiner Deutung und Gestaltung im Kunstwerke mahnte." (Wagner 1871-1873,
4, 327 f. = Wagner 1907, 4, 265 f. Der Passus ist auch zitiert bei Nohl o. J., 31-
33, wo ihn N. 1888 gelesen haben dürfte.) Ursprünglich stammt die Idee einer
Parallelisierung des Fliegenden Holländers mit dem Ewigen Juden nicht von
Wagner selbst; vielmehr hat er sie aus Heinrich Heines Anekdote über „den
fliegenden Holländer, den ewigen Juden des Oceans" in den Memoiren des
Herren von Schnabelewopski übernommen. Im Unterschied zur Mittheilung an
meine Freunde hat Wagner in seiner Autobiographischen Skizze von 1842 die
Inspiration durch Heine offen eingeräumt (Wagner 1871-1873, 1, 21 = Wagner
1907, 1, 17).
Im Horizont des Fliegenden Holländers ist die mythologische Figur des Ewi-
gen Juden bei N. außer in 17, 4-6 nicht präsent. Gelegentlich evoziert der Ewige
Jude in N.s Werken antijüdische Stereotype (so in AC 58, KSA 6, 246, 33), wäh-
rend er andernorts darüber nachdenkt, wie das moderne Judentum „dem
Nomadenleben, dem ,ewigen Juden' ein Ziel zu setzen" vermöge (JGB 251, KSA
5, 194, 20).
17, 6-8 Oder dass alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen
Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Kundry)] Im „Bühnenweihfestspiel" Parsi-
fal (1882) ist Kundry die Helferin der Gralsritter, die freilich auf Betreiben des
Zauberers Klingsor Parsifal verführen soll, was ihr aber misslingt. Der unwis-
sende Tor Parsifal erfährt durch Kundry von seiner Abkunft und kann sie
nach dem Tode genährt worden, zu dem Verlangen nach einem Neuen, Unbe-
kannten, noch nicht sichtbar Vorhandenen, aber im Voraus Empfundenen,
gesteigert. Diesen ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen wir im Mythos des
fliegenden Holländers, diesem Gedichte des Seefahrervolkes aus der weltge-
schichtlichen Epoche der Entdeckungsreisen. Wir treffen auf eine, vom Volks-
geiste bewerkstelligte, merkwürdige Mischung des Charakters des ewigen
Juden mit dem des Odysseus. Der holländische Seefahrer ist zur Strafe seiner
Kühnheit vom Teufel [...] verdammt, auf dem Meere in alle Ewigkeit rastlos
umherzusegeln. Als Ende seiner Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros, den
Tod; diese, dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer
aber gewinnen durch — ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehn-
sucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dieß Weib
ist aber nicht mehr die heimathlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des
Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene,
ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, — sage ich es mit einem Worte
heraus: das Weib der Zukunft. / Dieß war der ,fliegende Holländer', der
mir aus den Sümpfen und Fluthen meines Lebens so wiederholt und mit so
unwiderstehlicher Anziehungskraft auftauchte: das war das erste Volksge-
dicht, das mir tief in das Herz drang, und mich als künstlerischen Menschen
zu seiner Deutung und Gestaltung im Kunstwerke mahnte." (Wagner 1871-1873,
4, 327 f. = Wagner 1907, 4, 265 f. Der Passus ist auch zitiert bei Nohl o. J., 31-
33, wo ihn N. 1888 gelesen haben dürfte.) Ursprünglich stammt die Idee einer
Parallelisierung des Fliegenden Holländers mit dem Ewigen Juden nicht von
Wagner selbst; vielmehr hat er sie aus Heinrich Heines Anekdote über „den
fliegenden Holländer, den ewigen Juden des Oceans" in den Memoiren des
Herren von Schnabelewopski übernommen. Im Unterschied zur Mittheilung an
meine Freunde hat Wagner in seiner Autobiographischen Skizze von 1842 die
Inspiration durch Heine offen eingeräumt (Wagner 1871-1873, 1, 21 = Wagner
1907, 1, 17).
Im Horizont des Fliegenden Holländers ist die mythologische Figur des Ewi-
gen Juden bei N. außer in 17, 4-6 nicht präsent. Gelegentlich evoziert der Ewige
Jude in N.s Werken antijüdische Stereotype (so in AC 58, KSA 6, 246, 33), wäh-
rend er andernorts darüber nachdenkt, wie das moderne Judentum „dem
Nomadenleben, dem ,ewigen Juden' ein Ziel zu setzen" vermöge (JGB 251, KSA
5, 194, 20).
17, 6-8 Oder dass alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen
Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Kundry)] Im „Bühnenweihfestspiel" Parsi-
fal (1882) ist Kundry die Helferin der Gralsritter, die freilich auf Betreiben des
Zauberers Klingsor Parsifal verführen soll, was ihr aber misslingt. Der unwis-
sende Tor Parsifal erfährt durch Kundry von seiner Abkunft und kann sie