Stellenkommentar WA 3, KSA 6, S. 18 69
„Das schnöde Wort, das Herder in Jena über die Eugenie dem Dichter ins Ange-
sicht warf, war wohl auch dem Kreise des Priapus entnommen, denn das Trau-
erspiel heißt ja: Die natürliche Tochter."
18, 27-29 Selbst der Wilhelm Meister galt nur als Symptom des Niedergangs,
als moralisches „Auf-den-Hund-Kommen".] Vgl. Hehn 1888, 101 f.: „Auch viel
sittlicher im gemeinen Sinne waren Lafontaines Geschichten, denn im Wilhelm
Meister kamen Scenen und Figuren vor, zu denen man nur den Kopf schütteln
konnte. Höchst charakteristisch in dieser Beziehung ist die Aufnahme, die der
erste Band der Lehrjahre bei Fr. H. Jacobi und dessen adliger Umgebung fand
[...] /102/ [...] ,So weit', setzt Jacobi in seinem Brief vom 18. Februar 1795 hinzu,
,habe ich ihnen Recht geben müssen, daß ein gewisser unsauberer Geist darin
herrsche, und die Sache damit entschuldigt, daß ich dieses Buch als eine
besondere, eigene Art von Confessionen ansähe und man die Entwicklung
abwarten müsse. Ich bin damit nicht durchgedrungen.'" Vgl. NL 1888, KSA 13,
16[36], 496.
18, 29-19, 2 Die „Menagerie von zahmem Vieh", die „Nichtswürdigkeit" des
Helden darin erzürnte zum Beispiel Niebuhrn: der endlich in eine Klage aus-
bricht, welche Biterolf hätte absingen können: „Nichts macht leicht einen
schmerzlicheren Eindruck, als wenn ein grosser Geist sich seiner Flügel beraubt
und seine Virtuosität in etwas weit Geringerem sucht, indem er dem Höhe-
ren entsagt"...] Vgl. Hehn 1888, 102 f.: „Einen ähnlichen Eindruck mußte der
Roman auf den in eben jener Gegend heimischen, in Kopenhagen geborenen
Dithmarsen Barthold Niebuhr machen. [...] /103/ [...] Im Jahre 1812 nahm er
das Buch, dem er früher niemals hatte ,Geschmack abgewinnen können', wie-
der vor und war neugierig, ob es nun anders sein würde — es wollte aber auch
jetzt nicht besser gehen. Zwar etwas vollkommener Geschriebenes, sagt er, hat
unsere Sprache wohl nicht, Klopstocks Gelehrtenrepublik ausgenommen (man
denke!) — aber ,die Unnatürlichkeit des Plans, der Zwang der Beziehungen
dessen, was in einzelnen Gruppen meisterhaft entworfen und ausgeführt ist,
auf die gesammte Verwickelung und geheimnißvolle Leitung, die Unmöglich-
keit darin und die durchgehende Herzlosigkeit, wobei man sich noch am liebs-
ten an die ganz sinnlichen Personen hält, weil sie doch etwas dem Gefühl
Verwandtes äußern, die Nichtswürdigkeit oder Geringfügigkeit der Helden, an
deren Porträtschilderungen man sich doch oft ergötzt — dies Alles macht mir
das Buch noch immer unangenehm und ich ärgere mich an der Menagerie von
zahmem Vieh!' (Herzlosigkeit d. h. nirgends Redeschwulst, Nichtswür-
digkeit d. h. es fehlt an Heroischem, an prächtigen Sentenzen und theatrali-
schen Leibesstellungen). Weiter fügt Niebuhr hinzu: ,Geht es Dir nicht auch
so, daß nichts leicht einen schmerzlicheren Eindruck macht, als wenn ein gro-
„Das schnöde Wort, das Herder in Jena über die Eugenie dem Dichter ins Ange-
sicht warf, war wohl auch dem Kreise des Priapus entnommen, denn das Trau-
erspiel heißt ja: Die natürliche Tochter."
18, 27-29 Selbst der Wilhelm Meister galt nur als Symptom des Niedergangs,
als moralisches „Auf-den-Hund-Kommen".] Vgl. Hehn 1888, 101 f.: „Auch viel
sittlicher im gemeinen Sinne waren Lafontaines Geschichten, denn im Wilhelm
Meister kamen Scenen und Figuren vor, zu denen man nur den Kopf schütteln
konnte. Höchst charakteristisch in dieser Beziehung ist die Aufnahme, die der
erste Band der Lehrjahre bei Fr. H. Jacobi und dessen adliger Umgebung fand
[...] /102/ [...] ,So weit', setzt Jacobi in seinem Brief vom 18. Februar 1795 hinzu,
,habe ich ihnen Recht geben müssen, daß ein gewisser unsauberer Geist darin
herrsche, und die Sache damit entschuldigt, daß ich dieses Buch als eine
besondere, eigene Art von Confessionen ansähe und man die Entwicklung
abwarten müsse. Ich bin damit nicht durchgedrungen.'" Vgl. NL 1888, KSA 13,
16[36], 496.
18, 29-19, 2 Die „Menagerie von zahmem Vieh", die „Nichtswürdigkeit" des
Helden darin erzürnte zum Beispiel Niebuhrn: der endlich in eine Klage aus-
bricht, welche Biterolf hätte absingen können: „Nichts macht leicht einen
schmerzlicheren Eindruck, als wenn ein grosser Geist sich seiner Flügel beraubt
und seine Virtuosität in etwas weit Geringerem sucht, indem er dem Höhe-
ren entsagt"...] Vgl. Hehn 1888, 102 f.: „Einen ähnlichen Eindruck mußte der
Roman auf den in eben jener Gegend heimischen, in Kopenhagen geborenen
Dithmarsen Barthold Niebuhr machen. [...] /103/ [...] Im Jahre 1812 nahm er
das Buch, dem er früher niemals hatte ,Geschmack abgewinnen können', wie-
der vor und war neugierig, ob es nun anders sein würde — es wollte aber auch
jetzt nicht besser gehen. Zwar etwas vollkommener Geschriebenes, sagt er, hat
unsere Sprache wohl nicht, Klopstocks Gelehrtenrepublik ausgenommen (man
denke!) — aber ,die Unnatürlichkeit des Plans, der Zwang der Beziehungen
dessen, was in einzelnen Gruppen meisterhaft entworfen und ausgeführt ist,
auf die gesammte Verwickelung und geheimnißvolle Leitung, die Unmöglich-
keit darin und die durchgehende Herzlosigkeit, wobei man sich noch am liebs-
ten an die ganz sinnlichen Personen hält, weil sie doch etwas dem Gefühl
Verwandtes äußern, die Nichtswürdigkeit oder Geringfügigkeit der Helden, an
deren Porträtschilderungen man sich doch oft ergötzt — dies Alles macht mir
das Buch noch immer unangenehm und ich ärgere mich an der Menagerie von
zahmem Vieh!' (Herzlosigkeit d. h. nirgends Redeschwulst, Nichtswür-
digkeit d. h. es fehlt an Heroischem, an prächtigen Sentenzen und theatrali-
schen Leibesstellungen). Weiter fügt Niebuhr hinzu: ,Geht es Dir nicht auch
so, daß nichts leicht einen schmerzlicheren Eindruck macht, als wenn ein gro-