Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0091
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
72 Der Fall Wagner

4
19, 27-29 Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt,
wie nur irgend ein Franzose an sie geglaubt hat.] Nohl hat in seiner Wagner-
Biographie ein ganzes Kapitel unter den Titel „Revolution in Leben und Kunst"
gestellt (Nohl o. J., 28-45) und darin Wagners musikalischen Umsturzwillen in
Verbindung gebracht mit seinem politischen Umsturzwillen, der bekanntlich
1849 in die Emigration mündete. Die Pointe von 19, 27-29 besteht darin, Wag-
ners Glauben an die Revolution mit dem entsprechenden französischen Revo-
lutionsenthusiasmus zu parallelisieren, während Nohl ängstlich darauf
bedacht ist, Wagner als patriotischen Kämpfer gegen alles Französische und
Fremde (und Jüdische), gegen „freche Modecivilisation" hinzustellen: „Er
fühlte das tief Frivole einer rein äußerlichen Cultur, die dieser semitisch-galli-
sche Geist der Neuzeit angesetzt hatte und mit der er ganz Europa wie in
einem eisernen Netze gefangen hielt." (Nohl o. J., 24) Auch Wagners eigene
rückblickende Äußerungen zu seinem längst verblichenen revolutionären
Impetus in der Einleitung zum dritten und vierten Band seiner Gesammelten
Schriften (1872) sind aufschlussreich genug: „Wenn ich in der vollen Aufregung
des Jahres 1849 einen Aufruf, wie ihn die zunächst hier folgende Schrift: ,die
Kunst und die Revolution' enthielt, erlassen konnte, glaube ich mit dem letzten
Anrufe des greisen Geschichtsschreibers [sc. Thomas Carlyle] mich in vollkom-
mener Übereinstimmung befunden zu haben. Ich glaubte an die Revolution,
wie an ihre Nothwendigkeit und Unaufhaltsamkeit, mit durchaus nicht mehr
Übertreibung als Carlyle: nur fühlte ich mich zugleich auch berufen, ihr die
Wege der Rettung anzuzeigen. Lag es mir fern das Neue zu bezeichnen, was
auf den Trümmern einer lügenhaften Welt als neue politische Ordnung
erwachsen sollte, so fühlte ich mich dagegen begeistert, das Kunstwerk zu
zeichnen, welches auf den Trümmern einer lügenhaften Kunst erstehen
sollte. Dieses Kunstwerk dem Leben selbst als prophetischen Spiegel seiner
Zukunft vorzuhalten, dünkte mich ein allerwichtigster Beitrag zu dem Werke
der Abdämmung des Meeres der Revolution in das Bette des ruhig fließenden
Stromes der Menschheit." (Wagner 1871-1873, 3, 2 f.= Wagner 1907, 3, 2) Wag-
ner entpolitisiert also konsequent seine früheren Stellungnahmen und drapiert
sich rückblickend als politisch harmlosen Kunstrevolutionär. Vgl. auch NK KSA
6, 310, 14.
19, 29-31 Er suchte nach ihr in der Runenschrift des Mythus, er glaubte in
Siegfried den typischen Revolutionär zu finden.] Zur „Runenschrift" siehe NK
19, 31-33. Auch Nohl o. J., 42 sieht Siegfried in diesem revolutionären Kontext,
akzentuiert aber anders: „,Siegfrieds Tod' dagegen war bereits in diesem Jahre
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften