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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0097
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78 Der Fall Wagner

des ew'gen Werdens / off'ne Thore / schließ' ich hinter mir zu: / nach dem
wünsch- und wahnlos / heiligstem Wahlland, / der Welt-Wanderung Ziel, / von
Wiedergeburt erlös't, / zieht nun die Wissende hin. / Alles Ew'gen / sel'ges
Ende, / wiss't ihr, wie ich's gewann? / Trauernder Liebe / tiefstes Leiden /
schloß die Augen mir auf: / enden sah ich die Welt. — // Daß diese Strophen,
weil ihr Sinn in der Wirkung des musikalisch ertönenden Drama's bereits mit
höchster Bestimmtheit ausgesprochen wird, bei der lebendigen Ausführung
hinwegzufallen hatten, durfte schließlich dem Musiker nicht entgehen." (Wag-
ner 1871-1873, 6, 362 f. = Wagner 1907, 6, 256) Offensichtlich ist dies die Stelle,
die N. zur sarkastischen Vermutung veranlasste, Brünnhilde müsse hier „das
vierte Buch der ,Welt als Wille und Vorstellung' in Verse bringen" (21, 5 f.).
Selbst wenn man dagegen einwendet, in der tatsächlichen Inszenierung der
Götterdämmerung hätten diese Verse ja entfallen müssen und sie seien über-
dies eine spätere Zutat Wagners, die dann nicht zum kanonischen Text des
Werkes gehören sollten, so argumentiert Wagner in seiner Erläuterung doch
selbst, die gespielte, von ihm ja erst nach der Schopenhauer-Lektüre, nämlich
von 1869 bis 1874 komponierte Musik bringe den „Sinn" dieser Verse „bereits
mit höchster Bestimmtheit" zum Ausdruck, so dass sie als Verse überflüssig
würden. Der Sinn der Verse liegt aber in der Weltverneinung in Schopenhauers
Manier, so dass N. in Wagners Erläuterung gerade den Beleg dafür finden
konnte, man müsse das letzte Ende der Götterdämmerung im Unterschied zur
früheren Fassung schopenhauerisch-pessimistisch deuten.
Auffallend ist schließlich, dass eine utopisch-konkrete Vision, welche auch
die Urfassung der Götterdämmerung — Siegfrieds Tod — für das Ende vorsah,
durch eine offene, eigentlich nur das Ende des Alten beschreibende Fassung
ersetzt wurde (diese Variante stammt aus dem Jahr 1856, also aus der Phase
von Wagners Schopenhauer-Begeisterung). Dabei muss allerdings bedacht wer-
den, dass es am Ende nicht weniger als fünf verschiedene Varianten der
Schlussverse Brünnhildes gab, während die zweite Variante (wahrscheinlich
aus dem Frühsommer 1851) bereits denselben Ton wie diejenige von 1856
anschlägt: „Machtlos scheidet / die die Schuld nun meidet / Eurer Schuld
entsproß der froheste Held / dessen freie Tat sie getilgt: / erspart ist euch der
bange Kampf / um eure endende Macht: / erbleichet in Wonne vor des Men-
schen Tat, / vor dem Helden, den ihr gezeugt! / Aus eurer bangen Furcht /
verkünd' ich euch die selige Todeserlösung! // Trauernder Minne / tiefstes Mit-
leid / schloß die Tore mir auf: / Wer über alles / achtet das Leben, / wende
sein Auge von mir! / Wer aus Mitleid / der Scheidenden nachblickt, / dem
dämmert von fern / die Erlösung, die ich erlangt. / So scheid' ich / grüßend,
Welt, von dir!" (Wagner 1911, 16, 210 f., vgl. auch Dahlhaus 1971, 94 f. u. 137 ff.)
Man trifft den Sinn des durchaus nicht resignierenden Endes der Götterdämme-
 
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