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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0106
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Stellenkommentar WA 5, KSA 6, S. 23 87

Sklaven eines fremden Willens gemacht werden kann. Befehle, bestimmte Thä-
tigkeiten auszuführen, oder zugeflüsterte Ideen, die zu solchen führen, werden
aufgenommen und befolgt, und vor allem werden sicht- oder hörbare Thätig-
keiten, die man dem Hypnotisierten vormacht, willenlos nachgeahmt. [...] Es
ist somit bei solchen Personen der Nachahmungstrieb in einem Grad lebendig,
wie wir ihn sonst nur bei ganz kleinen Kindern und gewissen Tieren zu finden
gewohnt sind, eine Thatsache, auf deren psychologische und philosophische
Bedeutung besonders E. Krause hingewiesen hat. Es wird dadurch offenbar,
daß die Nachahmung eine Art Fundamentalphänomen der psychischen Mecha-
nik ist [...]. / Das Wesen und die Erklärung des H. glaubte Braid wohl mit Recht
in einer vorübergehenden totalen Ermüdung oder Lähmung eines Gehirnteils
durch die lange Fixierung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sinnes-
eindruck suchen zu sollen." (Meyer 1885-1892, 8, 852 f.) N.s Bemerkung zur
Hypnose überträgt die Idee der Gehirnlähmung sowie des Willenlos-Machens
auf die Wirkung Wagnerischer Musik. Freilich steht diese Bemerkung nicht in
medizinischem, sondern in kulturkritischem Zusammenhang; vgl. NL 1885,
KSA 11, 37[15], 591, 10-20 (korrigiert nach KGW IX 4, W I 6, 67, 42-44-69, 2-
10, hier zunächst in der ursprünglichsten Fassung wiedergegeben): „wieviel
Wagnerisches ist doch an allen diesen Pariser Romantikern! (A)uch jener hyste-
rische Zug, den Wagner am Weibe besonders geliebt und in Musik gesetzt hat,
gehört mehr nach Paris als irgend wo anders hin: man frage nur die Irren-
ärzte — und ebenso die hypnotisirenden Griffe und Handauflegungen, mit
denen unser musikalischer magus und Cagliostro seine Weiblein zu dieser wol-
lüstigen Nachtwandelei mit offnen Augen und geschlossenen Verstände zwingt
und überredet."
In einer späteren, von N. überarbeiteten Version lautet derselbe Abschnitt:
„Man gestehe es sich doch ein: wieviel Wagnerisches ist doch an diese(r)
Französischen Romantik! Auch jener hysterisch-erotische Zug, den Wagner am
Weibe besonders geliebt und in Musik gesetzt hat, ist am besten gerade in Paris
zu Hause: man frage nur die Irrenärzte —; und nirgends wo werden einmal die
hypnotisirenden Griffe und Hand-Auflegungen, mit denen unser musikalischer
Magus und Cagliostro seine Weiblein zur wollüstigen Nachtwandelei mit offnen
Augen und geschlossenem Verstände zwingt und überredet(,) so gut ,verstan-
den' werden als unter Pariserinnen." (KGW IX 4, W I 6, 67, 41-45-69, 1-10) Der
„Wagnerianer" unterliegt nach NL 1887, KSA 12, 10[155], 543, 8-11 (korrigiert
nach KGW IX 6, W II 2, 37, 8-12) den „Elementarkräften der Musik ungefähr,
wie das Weib dem Willen seines Hypnotiseurs". Wagners Wirkung ist keines-
wegs auf seine männlichen Anhänger beschränkt: „er hypnotisirt die mystisch-
erotischen Weibchen, indem (er) seine Musik (mit) der Geste eines Magneti-
seurs bis in ihr Rückenmark hinein [...] fühlbar macht (— man beobachte das
 
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