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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0110
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Stellenkommentar WA 6, KSA 6, S. 24 91

merklich ab. In M 33, KSA 3, 42, 30-34 wird die Empfindung der „Erhabenheit"
mit einer „eingebildete [n] Welt" assoziiert: „Und noch jetzt sehen wir
die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene
eingebildete Welt im Spiel". Nach und nach muss die Erhabenheit in N.s Auf-
merksamkeitsregie der Heiterkeit weichen — die Erhabenheit gerät in Deka-
denzverdacht. Das wird besonders deutlich im einschlägigen Zarathustra-Kapi-
tel: „Einen Erhabenen sah ich heute, einen Feierlichen, einen Büsser des
Geistes: oh wie lachte meine Seele ob seiner Hässlichkeit!" (Za II Von den
Erhabenen, KSA 4, 150, 6 f.) In NL 1885, KSA 11, 37[15], 590, 26-32 (KGW IX
4, W I 6, 67, 25-32, im Folgenden nur in der von N. überarbeiteten Version
wiedergegeben) wird Wagner mit dem „Nachwuchs des romantisme der dreißi-
ger Jahre" in Verbindung gebracht, in dessen Gesellschaft „er, in der entschei-
dendsten Zeit seines Lebens, hat leben wollen. Dort fühlte er sich selber
verwandt und heimischer als in Deutschland, mit seiner ungeheuren Begierde
nach [...] neuen Ausschweifungen des Erhabenen, mit seinem sonnenarmen,
gequälten Glück an der Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen". Wagners
Erhabenheitsästhetik und decadence bilden fortan in N.s kritischer Sicht eine
verhängnisvolle Einheit, die er in WA 6 ätzend karikiert. Dem Zusammenhang
von Erhabenem und Tiefem bei Wagner ist N. übrigens im Frühjahr 1888 bei
der Lektüre von Pohls Wagner-Buch begegnet, in dem eine Rede Wagners
zusammengefasst wird: „Wie die Reformation die Religion der Deutschen tiefer
und fester begründet habe, indem sie das Christenthum von römischen Banden
befreite, müsse auch der Musik das ihr eigene Deutsche erhalten bleiben, das
Tiefe und Erhabene." (Nohl o. J., 87, vgl. NK KSA 6, 62, 20 f.) Zum Erhabenen
bei N. siehe z. B. Lipperheide 1999.
24, 12 Bildungs-Cretins] In WA Zweite Nachschrift spricht N. vom „Bayreuther
Cretinismus" (46, 14); hinsichtlich der „heiligen Epileptiker und Gesichte-
Seher" des frühen Christentums meint N. in NL 1888, KSA 13, 14[57], 245, 24 u.
28, es seien „im Vergleich zu uns, moralische Cretins...". Schließlich findet
sich zum Begriff noch die rätselhafte Notiz „die Cultur-Cretins, die ,Ewig-Weib-
lichen'" (NL 1888, KSA 13, 16[46], 502, 1). Cretinismus oder Kretinismus ist im
19. Jahrhundert noch ein medizinischer Fachbegriff: „Kretinismus, eine endemi-
sche, in ihren Ursachen noch nicht genau bekannte Entwickelungskrankheit,
welche bei den davon befallenen Individuen (Kretins, Fexe, Trotteln, Gocken,
Gauche, Simpel) eine eigentümliche Mißgestaltung der körperlichen Organisa-
tion und meist einen hohen Grad geistiger Schwäche zur Folge hat. Woher das
Wort Kretin stammt, ist nicht sicher; weder die Ableitung von creta (Kreide)
noch die von chretien (weil die Unglücklichen als ,Segen des Himmels'
bezeichnet wurden) läßt sich in irgend einer Weise begründen. Am wahr-
scheinlichsten ist das Wort eine jener zahlreichen im Volksmund befindlichen
 
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