Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0111
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
92 Der Fall Wagner

Bezeichnungen für Geistesschwäche und entstand in einer von der Krankheit
heimgesuchten Gegend mit romanisch sprechender Bevölkerung als Provinzia-
lismus." (Meyer 1885-1892, 10, 194) Der von N. rege benutzte Schweiz-Reisefüh-
rer von Karl Baedeker listet minutiös auf, in welchen Gemeinden der „Cretinis-
mus" endemisch oder besonders viele „Cretins" anzutreffen seien (Baedeker
1869, 206, 235 f., 308 u. 310). Das von N. ebenfalls gebrauchte Schweiz-Reise-
handbuch von Max Koch von Berneck verwendet den Ausdruck in Klammern
zur Erläuterung der Wendung „verkommene Menschen" (Koch von Berneck
1878, 277. Bei Baedeker und bei Koch von Berneck ist das Wallis besonders
betroffen.) In seiner Psychologie des Verbrechens, die sich in N.s Bibliothek
befindet, vermerkt August Krauss: „Was man Cretinismus nennt, ist nur eine
Varietät des Idiotismus, welcher in dieselben Abstufungen zerfällt und nur das
Besondere hat, dass eine auf endemischen Einflüssen beruhende eigenthümli-
che Entartung der menschlichen Gestalt mit der psychischen Entartung sich
paart." (Krauss 1884, 72) Der zeitgenössische, außermedizinische Sprachge-
brauch ist abschätzig; N. ist ihm in seinen französischen Lektüren häufig
begegnet (vgl. z. B. Goncourt 1887-1888, 2, 195; Flaubert 1884, 18, 31, 94 u.
244; Stendhal 1854b, 143: „curiosite de cretin"; Karr 1877, 47, 66 u. 347; Roberty
1887, 44: Kants Philosophie als „cretinisme superieur"). In mündlichen Äuße-
rungen Cosima gegenüber hat Wagner den „Cretinismus" habituell mit Frank-
reich und der Minderwertigkeit der dortigen (politischen) Kultur assoziiert (C.
Wagner 1988, 1, 281; 1, 584 u. 2, 643).
24, 20-24 Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff „Stil"
seinen Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als
ein Gedanke! Sondern der Zustand vor dem Gedanken, das Gedräng der noch
nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken] Gegen Kant,
der die Ahnung strikt von der Vernunft fernhalten wollte, haben sich bereits
Friedrich Heinrich Jacobi und dann insbesondere Jakob Friedrich Fries (Wissen,
Glaube und Ahndung, 1805) um eine philosophische Rehabilitation der Ahnung
als dritte Kraft neben Glauben und Wissen bemüht. Diese Tradition nimmt
Wagner auf und romantisiert sie, wenn er im dritten Teil von Oper und Drama
kundgibt: „Da, wo die Gebärde nämlich vollkommen ruht, und die melodische
Rede des Darstellers gänzlich schweigt, — also da, wo das Drama aus noch
unausgesprochenen inneren Stimmungen heraus sich vorbereitet, vermögen
diese bis jetzt noch unausgesprochenen Stimmungen vom Orchester in der
Weise ausgesprochen zu werden, daß ihre Kundgebung den, von der dichteri-
schen Absicht als nothwendig bedungenen Charakter der Ahnung an sich
trägt. — / Die Ahnung ist die Kundgebung einer unausgesprochenen, weil —
im Sinne unserer Wortsprache — noch unaussprechlichen Empfindung. Unaus-
sprechlich ist eine Empfindung, die noch nicht bestimmt ist, und unbestimmt
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften