110 Der Fall Wagner
Liebe. — [...] Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden,
furchtbaren Entsittlichung unserer heutigen sozialen Zustände das nothwen-
dige Ergebniß der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch
eine barbarische Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verschwin-
den dieser Forderung und der Gründe, aus denen sie gestellt wurde, — nur die
Aufhebung der unmenschlichen Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung
zum Leben, kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbstbe-
schränkung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglichung der freien
Liebe. Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem
Maaße herbei, denn sie ist eben nicht Selbstbeschränkung, sondern unendlich
mehr, nämlich — höchste Kraftentwickelung unseres individuel-
len Vermögens — zugleich mit dem nothwendigsten Drange
der Selbstaufopferung zu Gunsten eines geliebten Gegen-
standes." (Wagner 1871-1873, 4, 256 f. = Wagner 1907, 4, 205 f.; zur „freien
Liebe" siehe NK 20, 16 f.) Wagners Freiheitsbegriff hat sich — wie derjenige
N.s — bewusst von den aufklärerischen Vorgaben gelöst.
27, 25 „gleiche Rechte für Alle"] Die Polemik gegen die im Gefolge von
Aufklärung und Französischer Revolution sich etablierenden Rechtsgleich-
heitsvorstellungen ist bei N. ein stehender Topos, der sich in Texten seiner
mittleren Schaffensphase noch verhältnismäßig moderat äußert (vgl. z. B. MA
I 451, KSA 2, 293), jedoch in den Schriften von 1888 dominant wird. In GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 34, KSA 6, 132, 19 f. artikuliert sich diese Pole-
mik etwa bei der Annäherung von Christ und Anarchist, wobei die Forderung
nach „gleichen Rechten", mit der die am Leben verarmten Anarchisten auftre-
ten, als logische Konsequenz der bereits von den Christen betriebenen Gleich-
macherei fundamental ungleicher Menschen erscheint. In AC 43, KSA 6, 217,
30-32 wird diese Konsequenz explizit gezogen: „Das Gift der Lehre ,gleiche
Rechte für Alle' — das Christenthum hat es am grundsätzlichsten ausgesät"
(vgl. AC 46, KSA 6, 224, 24 f.). Mit dieser Rückprojektion der modernen demo-
kratisch-rechtsstaatlichen Vorstellung, alle müssten gleiche Rechte haben, in
das Christentum der Antike, das allenfalls von einer Gleichheit vor Gott gespro-
chen hat, soll die historisch tiefe Verwurzelung der abendländischen deca-
dence ebenso plausibel gemacht werden wie die Notwendigkeit einer „Umwer-
thung aller Werthe", die nicht nur historisch jüngste Entwicklungen, sondern
einen epochenübergreifenden Verfallsprozess rückgängig machen will. Dabei
ist das strategische Mittel der Pathologisierung hilfreich: „Der Kampf um glei-
che Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiss das." (EH
Warum ich so gute Bücher schreibe 5, KSA 6, 306, 12 f.) In EH Warum ich so
weise bin 5, KSA 6, 271, 6-8 beschreibt das Ich sich selbst autogenealogisch
als jemanden, „der nie unter seines Gleichen lebte" und dem entsprechend
Liebe. — [...] Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden,
furchtbaren Entsittlichung unserer heutigen sozialen Zustände das nothwen-
dige Ergebniß der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch
eine barbarische Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verschwin-
den dieser Forderung und der Gründe, aus denen sie gestellt wurde, — nur die
Aufhebung der unmenschlichen Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung
zum Leben, kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbstbe-
schränkung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglichung der freien
Liebe. Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem
Maaße herbei, denn sie ist eben nicht Selbstbeschränkung, sondern unendlich
mehr, nämlich — höchste Kraftentwickelung unseres individuel-
len Vermögens — zugleich mit dem nothwendigsten Drange
der Selbstaufopferung zu Gunsten eines geliebten Gegen-
standes." (Wagner 1871-1873, 4, 256 f. = Wagner 1907, 4, 205 f.; zur „freien
Liebe" siehe NK 20, 16 f.) Wagners Freiheitsbegriff hat sich — wie derjenige
N.s — bewusst von den aufklärerischen Vorgaben gelöst.
27, 25 „gleiche Rechte für Alle"] Die Polemik gegen die im Gefolge von
Aufklärung und Französischer Revolution sich etablierenden Rechtsgleich-
heitsvorstellungen ist bei N. ein stehender Topos, der sich in Texten seiner
mittleren Schaffensphase noch verhältnismäßig moderat äußert (vgl. z. B. MA
I 451, KSA 2, 293), jedoch in den Schriften von 1888 dominant wird. In GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 34, KSA 6, 132, 19 f. artikuliert sich diese Pole-
mik etwa bei der Annäherung von Christ und Anarchist, wobei die Forderung
nach „gleichen Rechten", mit der die am Leben verarmten Anarchisten auftre-
ten, als logische Konsequenz der bereits von den Christen betriebenen Gleich-
macherei fundamental ungleicher Menschen erscheint. In AC 43, KSA 6, 217,
30-32 wird diese Konsequenz explizit gezogen: „Das Gift der Lehre ,gleiche
Rechte für Alle' — das Christenthum hat es am grundsätzlichsten ausgesät"
(vgl. AC 46, KSA 6, 224, 24 f.). Mit dieser Rückprojektion der modernen demo-
kratisch-rechtsstaatlichen Vorstellung, alle müssten gleiche Rechte haben, in
das Christentum der Antike, das allenfalls von einer Gleichheit vor Gott gespro-
chen hat, soll die historisch tiefe Verwurzelung der abendländischen deca-
dence ebenso plausibel gemacht werden wie die Notwendigkeit einer „Umwer-
thung aller Werthe", die nicht nur historisch jüngste Entwicklungen, sondern
einen epochenübergreifenden Verfallsprozess rückgängig machen will. Dabei
ist das strategische Mittel der Pathologisierung hilfreich: „Der Kampf um glei-
che Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiss das." (EH
Warum ich so gute Bücher schreibe 5, KSA 6, 306, 12 f.) In EH Warum ich so
weise bin 5, KSA 6, 271, 6-8 beschreibt das Ich sich selbst autogenealogisch
als jemanden, „der nie unter seines Gleichen lebte" und dem entsprechend