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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0153
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134 Der Fall Wagner

einhergehend eine Verdrängung der Handlung: „Nach unserm Maaß gehören
die Ereignisse einer griech. Tragödie in einen Akt. Das Ziel des Dichters
ist eine prachtvolle tief ausklingende Scene des Pathos, ein Höhepunkt der
lyrischen Stimmung; das was gethan wird, soll dazu nur vorbereiten. Im
modernen Drama ist die That selbst das Ziel. Daraus ergiebt sich eine total
verschiedenartige Bauart; die Höhepunkte des antiken Drama's beginnen, wo
bei uns der Vorhang fällt, die interessantesten Theile unserer Trag., die ersten
4 Akte, existiren im griech. Drama gar nicht." (KGW II 5, 82, 21-29) Und weiter:
„die That ist in der griech. Trag, ursprünglich episodisch, ein Nebenbei"
(ebd., 83, 17 f.). Wenn N. in 32, 23-28 diesen von ihm viel früher diagnostizier-
ten Unterschied im Darstellungsinteresse zwischen antiker und moderner Tra-
gödie hier aufgreift, dann nicht, um generell etwas zum Unterschied zwischen
antikem und modernem Drama zu sagen, sondern um spezifisch die Hand-
lungsorientierung von Wagners musikdramatischen Werken als dekadent zu
brandmarken. Zwar erwähnt N., dass „alle Welt" im „Irrthum" über die Wortbe-
deutung von Drama befangen sei, aber die Schelte dafür hat nicht etwa das
gesamte moderne Drama (womöglich seit Shakespeare, den die Vorlesung als
dafür paradigmatisch nimmt — KGW II 5, 82, 20-32), sondern nur Wagner
einzustecken. Die Fußnote in WA 9 — als Fußnote in N.s Werken ohnehin eine
höchst seltene, bemerkenswerte Formentscheidung und, gerade als philologi-
sche Fußnote, die Suggestion wissenschaftlicher Untermauerung erzeugend —
behauptet, dass, aber erklärt nicht, warum die angeblich falsche Übersetzung
des Wortes „Drama" ein „wahres Unglück für die Aesthetik" gewesen sein soll.
Weil ihretwegen das griechische Drama einfach missverstanden worden ist
oder doch vielmehr, weil in der Neuzeit ihr folgend ,falsche', eben handlungs-
orientierte Dramen entstanden sind? Letzteres wiederum würde bedeuten, dass
die Dramen der Neuzeit allesamt nicht N.s ästhetischem Maßstab standhal-
ten — ohne dass N. zugleich rechtfertigen würde, weshalb die Pathosorientie-
rung der antiken Tragödie die einzig legitime Theaterform sein soll. Ein
Kohärenzproblem innerhalb von N.s Wagner-Kritik zeichnet sich schließlich
darin ab, dass N. eben noch in WA 8, KSA 6, 29, 28 f. postuliert hatte, Wagners
„Pathos" werfe „jeden Geschmack, jeden Widerstand über den Haufen". Man
muss daraus zumindest folgern, dass das Pathos in Wagners musikdramati-
scher Produktion eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als in anderen drama-
tischen Erzeugnissen der Neuzeit. Drückt sich in der Pathosorientierung nicht
das Wirkungsinteresse der antiken Tragödie aus, dessen Vorhandensein N. bei
Wagner gerade geißelt? Oder worin unterscheidet sich das jeweilige Wirkungs-
interesse?
In seiner Auffassung des Dramas sah sich N. zumindest im Blick auf die
Handlung auch bestärkt von Carl Spitteler, für dessen dramaturgische Schrif-
 
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