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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0159
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140 Der Fall Wagner

weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Princip des kleinsten
Aufwandes..." Hier fließen Überlegungen ein, die N. in Emanuel Herrmanns
ökonomischen Studien Cultur und Natur formuliert fand, der freilich nicht —
wie der Philosoph Richard Avenarius 1876 — eine Philosophie als Denken der
Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes vertrat, sondern einen von
N. eifrig annotierten Aufsatz über „Das Gesetz der Vermehrung der Kraft"
geschrieben hatte (Herrmann 1887, 79-106). Das in den Naturwissenschaften
schon lange geläufige Ökonomieprinzip, das namentlich in der Debatte um
Charles Darwins Evolutionstheorie neue Triumphe feierte, besagt, dass natürli-
che Prozesse ihre Resultate mit einem möglichst geringen Kraftaufwand errei-
chen. Zu N.s Zeit fand es bei Gustav Theodor Fechner als „Prinzip der öko-
nomischen Verwendung der Mittel oder Prinzip des kleinsten
Kraftmaßes" (Viehoff 1888, 1, 186) Eingang in die ästhetische Diskussion
und wurde von Heinrich Viehoff zum Grundsatz einer „möglichst ökonomi-
sche[n] Verwendung der disponiblen Lebenskraft" (ebd., 188) umgedeutet.
Auch Kunsterzeugnisse hätten dieser Vorgabe zu gehorchen. Carl du Prel
benutzt das „Prinzip des kleinsten Kraftmasses" wiederum, um den Dualismus
von Geist und Materie zu beseitigen und seine monistische Seelenlehre als die
einzige mit diesem Prinzip vereinbare Auffassung zu deklarieren (Prel 1888,
50 f.). Als philosophische Paten werden dabei Herbert Spencer mit seiner Lehre
vom geringsten Widerstand (ebd., 51 f.) sowie Richard Avenarius (ebd., 53)
bemüht. Du Prel überträgt das Prinzip gleichfalls und ausdrücklich auf die
Kunst: „Wenn Gedanken, die das Abbild der Wirklichkeit sein sollen, nach
dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses sich bilden müssen, so muss dieses
Prinzip auch von der Sprache als dem Darstellungsmittel der Gedanken gelten,
d. h. also vom Stile, von dem Buffon sagt: le style c'est l'homme" (ebd., 66;
du Preis Paradebeispiel sind Bismarcks Reden im Reichstag). Wenn N. im Rah-
men dieser zeitgenössischen Diskussion das „Princip des kleinsten Aufwandes
von Kraft" gegen Wagner in Stellung bringt, so ist das ein typisches Beispiel
seines situativen Argumentierens, denn sonst sieht er in den natürlichen und
kulturellen Prozessen gerade nicht die Ökonomie, sondern vielmehr die Ver-
schwendung der Kräfte als das Geschehen bestimmend an (vgl. z. B. GD Streif-
züge eines Unzeitgemässen 14, KSA 6, 120 f.). Entsprechend wird in 33, 10-12
ironisch angemerkt, dass Wagner beim Schürzen und Lösen dramatischer Kno-
ten den geringsten Kraftaufwand betreibe — was wiederum nach den ästheti-
schen Ideen von Viehoff oder du Prel für die besondere künstlerische Qualität
sprechen müsste. Nach N. hingegen spricht es gerade dagegen.
33, 10-12 Nun, dabei schwitzt Wagner am wenigsten Blut; gewiss ist, dass er
für Knoten und Lösung den kleinsten Aufwand von Kraft macht.] Das Gegenteil
 
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