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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0163
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144 Der Fall Wagner

kums nach dem Erfolg der Madame Bovary: „Die Bewunderer des Buches fan-
den den Vortrag desselben merkwürdig; die Unwilligen meinten, die Art Flau-
bert's sei photographisch, nicht künstlerisch. Man erwartete oder fürchtete von
seiner Hand neue Madame Bovary's. / Aber man wartete vergeblich [...]. End-
lich nach Verlauf von sieben Jahren trat er aufs neue mit einem Roman auf
und die Lesewelt gab laut ihr Erstaunen kund. Man fand sich hier weit entfernt
von den Dörfern der Normandie und dem neunzehnten Jahrhundert. Man fand
den verschwundenen Verfasser ,Madame Bovary's' auf den Ruinen des alten
Karthago wieder. Er stellte in ,Salammbö' nichts anderes und geringeres als
Karthago zur Zeit Hamilcar's dar; eine Stadt und eine Civilisation, von der
man fast nichts Zuverlässiges wusste, einen Krieg zwischen Karthago und den
Miethstruppen der Stadt, der nicht einmal ein weltgeschichtliches oder soge-
nannt ideelles /120/ Interesse darbot. Einen Pariser Ehebruchsroman hatte
man erwartet und erhielt jetzt statt seiner altpunische Cultur, Tanitscultus und
Molochsanbetung, Belagerungen und Kämpfe, Schrecken ohne Zahl und Mass,
den Hungertod eines ganzen Heeres und das langsame Martyrium eines gefan-
genen Libyschen Häuptlings. Und das Sonderbarste war, dass all' dieses, über
welches Niemand etwas wusste und das Niemand controlliren konnte, diese
ganze ausgestorbene, wild barbarische Welt mit einer Anschaulichkeit und
kleinlicher Genauigkeit hervortrat, die in nichts hinter derjenigen ,Madame
Bovary's' zurückstand. Man entdeckte, dass die Methode, von der Beschaffen-
heit des Stoffes unabhängig, diesem colossalen und fremden, wie dem frühe-
ren, alltäglichen Gegenstand gegenüber dieselbe war. Er hatte dem Publikum
einen Possen gespielt, ihm auf durchschlagende Weise gezeigt, wie wenig es
ihn verstanden hatte. Wenn Jemand ihn für einen an die Scholle gebundenen
Realisten gehalten hatte, so konnte er jetzt lernen, wie Flaubert sich in den
Flammenländern zu Hause fühlte. [...] /121/ [...] Sein Werk war nicht, wie so
viele späteren archäologischen Romane, eine Maskerade, bei der moderne
Empfindungen und Lebensansichten in antiken Anzügen auftreten; nein, alles
war hier aus einem Stück, hatte dasselbe wilde und fürchterliche Gepräge.
Liebe, Schlauheit, Rachsucht, Religiosität, Charakterstärke, alles war unmo-
dern." (Brandes 1887b, 119-121) Selbst hat Flaubert keine skandinavischen
Stoffe mit seiner neuen literarischen Methode traktiert, aber nach der von N.
zur Kenntnis genommenen, damaligen Literaturkritik seine Figuren in unter-
schiedliche Umgebungen transponiert, vgl. Brunetiere 1884b, 66 f.: „L'histoire
d'un Coeur simple nous rappelait Madame Bovary: c'est ä Salammbö que nous
ramene Herodias, fantaisie d'erudition sur un sujet tres connu des peintres,
variations d'un fort savant homme sur la decollation de saint Jean-Baptiste.
Evidemment, cette antiquite semitique et ce monde oriental, ces laokanann et
ces Schahabarim, les syssites de Carthage et les marins d'Eziongaber [...] tout
 
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