146 Der Fall Wagner
Religion und Kunst (1880) zukommen (Bayreuther Blätter, 10. Stück, Oktober
1880, S. 268-300, vgl. Köselitz an N., 06. 08. 1888, KGB III 6, Nr. 561, S. 251 f.,
Z. 3-6). Gemeint ist offensichtlich folgende Stelle, die von Raphaels Sixtinischer
Madonna handelt: „Noch einiger Maaßen im kirchlichen Sinne realistisch
wurde von großen Bildnern die wunderbare Empfängniß Maria's in der Darstel-
lung der Verkündigung derselben durch den der Jungfrau erscheinenden Engel
aufgefaßt, wenngleich hier bereits die jeder Sinnlichkeit abgewandte geistige
Schönheit der Gestalten uns in das göttliche Mysterium ahnungsvoll blicken
ließ. Jenes Bild Raphael's zeigt uns nun aber die Vollendung des ausgeführten
göttlichen Wunders in der jungfräulichen Mutter, mit dem geborenen Sohne
selbst verklärt sich erhebend: hier wirkt auf uns eine Schönheit, welche die so
hoch begabte antike Welt noch nicht selbst nur ahnen konnte; denn hier ist
es nicht die Strenge der Keuschheit, welche eine Artemis unnahbar erscheinen
lassen mochte, sondern die jeder Möglichkeit des Wissens der Unkeuschheit
enthobene göttliche Liebe, welche aus innerster Verneinung der Welt die Beja-
hung der Erlösung geboren. Und dieß unaussprechliche Wunder sehen wir mit
unseren eigenen Augen, deutlich hold erkennbar und klar erfaßlich, der edels-
ten Erfahrung unseres eigenen Daseins innig verwandt, und doch über alle
Denkbarkeit der wirklichen Erfahrung hoch erhaben; so daß, wenn die griechi-
sche Bildgestalt der Natur das von dieser unerreichte Ideal vorhielt, jetzt der
Bildner das durch Begriffe unfaßbare und somit unbezeichenbare Geheimniß
des religiösen Dogma's in unverschleierter Offenbarung, nicht mehr der grü-
belnden Vernunft, sondern der entzückten Anschauung zuführte." (Wagner
1907, 10, 217 f.).
35, 3 Wagnerus dixit princeps in castitate auctoritas.] Lateinisch: „Wagner hat
es gesagt, die erste Autorität in der Keuschheit." In W II 7, 86 stand stattdessen
zuerst, bezogen auf 35, 2 f.: „Wagner lehrt das, s. gesammelte Schriften"
(KSA 14, 407).
10
Der letzte Absatz dieses Kapitels (36, 28-37, 19) ist vorweggenommen in NL
1888, KSA 13, 15[6]6, 407, 2-15, wobei dort die in WA 10 behauptete Nachfolger-
schaft Wagners zum Deutschen Idealismus ausgeblendet ist und die klimati-
schen Überlegungen im Vordergrund stehen, welche die Klima-Theorien der
Aufklärung (etwa bei Montesquieu) parodieren, die klimatische Gegebenheiten
direkt mit kulturellen Gegebenheiten in Beziehung gebracht haben: „Die Sensi-
bilität Wagners ist nicht deutsch: um so deutscher ist seine Art Geist und Geis-
tigkeit. Ich weiß es sehr gut, warum es deutschen Jünglingen auf eine unver-
Religion und Kunst (1880) zukommen (Bayreuther Blätter, 10. Stück, Oktober
1880, S. 268-300, vgl. Köselitz an N., 06. 08. 1888, KGB III 6, Nr. 561, S. 251 f.,
Z. 3-6). Gemeint ist offensichtlich folgende Stelle, die von Raphaels Sixtinischer
Madonna handelt: „Noch einiger Maaßen im kirchlichen Sinne realistisch
wurde von großen Bildnern die wunderbare Empfängniß Maria's in der Darstel-
lung der Verkündigung derselben durch den der Jungfrau erscheinenden Engel
aufgefaßt, wenngleich hier bereits die jeder Sinnlichkeit abgewandte geistige
Schönheit der Gestalten uns in das göttliche Mysterium ahnungsvoll blicken
ließ. Jenes Bild Raphael's zeigt uns nun aber die Vollendung des ausgeführten
göttlichen Wunders in der jungfräulichen Mutter, mit dem geborenen Sohne
selbst verklärt sich erhebend: hier wirkt auf uns eine Schönheit, welche die so
hoch begabte antike Welt noch nicht selbst nur ahnen konnte; denn hier ist
es nicht die Strenge der Keuschheit, welche eine Artemis unnahbar erscheinen
lassen mochte, sondern die jeder Möglichkeit des Wissens der Unkeuschheit
enthobene göttliche Liebe, welche aus innerster Verneinung der Welt die Beja-
hung der Erlösung geboren. Und dieß unaussprechliche Wunder sehen wir mit
unseren eigenen Augen, deutlich hold erkennbar und klar erfaßlich, der edels-
ten Erfahrung unseres eigenen Daseins innig verwandt, und doch über alle
Denkbarkeit der wirklichen Erfahrung hoch erhaben; so daß, wenn die griechi-
sche Bildgestalt der Natur das von dieser unerreichte Ideal vorhielt, jetzt der
Bildner das durch Begriffe unfaßbare und somit unbezeichenbare Geheimniß
des religiösen Dogma's in unverschleierter Offenbarung, nicht mehr der grü-
belnden Vernunft, sondern der entzückten Anschauung zuführte." (Wagner
1907, 10, 217 f.).
35, 3 Wagnerus dixit princeps in castitate auctoritas.] Lateinisch: „Wagner hat
es gesagt, die erste Autorität in der Keuschheit." In W II 7, 86 stand stattdessen
zuerst, bezogen auf 35, 2 f.: „Wagner lehrt das, s. gesammelte Schriften"
(KSA 14, 407).
10
Der letzte Absatz dieses Kapitels (36, 28-37, 19) ist vorweggenommen in NL
1888, KSA 13, 15[6]6, 407, 2-15, wobei dort die in WA 10 behauptete Nachfolger-
schaft Wagners zum Deutschen Idealismus ausgeblendet ist und die klimati-
schen Überlegungen im Vordergrund stehen, welche die Klima-Theorien der
Aufklärung (etwa bei Montesquieu) parodieren, die klimatische Gegebenheiten
direkt mit kulturellen Gegebenheiten in Beziehung gebracht haben: „Die Sensi-
bilität Wagners ist nicht deutsch: um so deutscher ist seine Art Geist und Geis-
tigkeit. Ich weiß es sehr gut, warum es deutschen Jünglingen auf eine unver-