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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0173
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154 Der Fall Wagner

sie dem Menschen den Vorzug vor dem Thiere giebt, nicht bloß zu hören,
sondern auch zu vernehmen, jedoch nicht was in Wolkenkukuksheim vor-
geht, sondern was ein vernünftiger Mensch dem Andern sagt: das wird von
diesem vernommen, und die Fähigkeit dazu heißt Vernunft." (Schopen-
hauer 1873-1874, 4/2, 147 f.).
37, 12-19 Sie haben Recht, diese deutschen Jünglinge, so wie sie nun einmal
sind: wie könnten sie vermissen, was wir Anderen, was wir Halkyonier bei
Wagnern vermissen — la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth;
die grosse Logik; den Tanz der Sterne; die übermüthige Geistigkeit; die Licht-
schauder des Südens; das glatte Meer — Vollkommenheit...] Auf diese Stelle
bezieht sich Pohl 1888 in seiner Rezension von WA. Er zitiert variierend: „Witz,
Feuer, Anmuth, la gaya scienza" und poltert daraufhin gegen den „Genuss-
menschen" und die „Grazie" (KGB III 7/3, 2, S. 1029 f.), vgl. NK KSA 6, 324, 9.
37, 15 wir Halkyonier] In der griechischen Mythologie ist Halkyone die
Tochter des Äolos und der Ägiale sowie die Gattin des trachischen Königs
Keyx, der bei einem Schiffbruch umkam. „Als die Wellen seinen Leichnam an
das heimatliche Ufer treiben und die dort harrende Gattin ihn erkennt, stürzt
sie sich aus Schmerz ihm nach in die Fluten, wo beide von Thetis in Eisvögel
(Halkyonen) verwandelt werden, fortleben und sich fortlieben. Da während
ihrer Brutzeit (im Dezember) Vater Äolos alle Winde ruhen ließ, entstand der
sprichwörtliche Ausdruck halkyonische Tage (lat. alcedonia), womit man
glückliche Tage heiterer Ruhe bezeichnet." (Meyer 1885-1892, 8, 18, vgl. auch
Ovid: Metamorphosen XI und NL 1885/86, 1[183], KSA 12, 51) Mit der „Ungestört-
heit und Meeresstille der Seele", wie die pyrrhonischen Skeptiker die Ataraxie
charakterisiert haben (Sextus Empiricus: Grundriss der Pyrrhonischen Skepsis I
10), scheint der „Halkyonismus" (NL 1888, KSA 13, 17[4]5, 526, 8), den N. von
1885 an gelegentlich beschwört, einherzugehen, wenn N. vom „eigentlich Vor-
nehme[n] an Werken und Menschen" spricht, nämlich ihrem „Augenblick glat-
ten Meers und halkyonischer Selbstgenügsamkeit" (JGB 224, KSA 5, 159, 27-
29), und auch in WA 10, KSA 6, 37, 18 „das glatte Meer" als halkyonisches
Kennzeichen anführt. Wenn Zarathustra einen „halkyonischen Ton" angeschla-
gen hat (EH Vorwort 4, KSA 6, 259, 27), und in WA 10 „wir Halkyonier" sich
radikal von Wagner distanzieren, liegt eine Identifikation der „Halkyonier" mit
den „Hyperboreern" nahe, die N. prominent an die Spitze des Antichrist setzt
(AC 1, vgl. NK KSA 6, 169, 2 f.): Beider Element ist das Eis, die Stille jenseits des
Nordwindes und die Stille des Meeres, die andernorts als tödliche Bedrohung
empfunden wird — wie in Goethes, vom „halkyonischen Meister" Felix Men-
delssohn (JGB 245, KSA 5, 188, 6) vertonten Gedicht Meeres Stille. Die „Halkyo-
nier" sind Umwerter aller Werte und Immoralisten: Sie ziehen „mit aller Kraft
 
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