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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0177
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158 Der Fall Wagner

naltext Riemanns, nämlich den Vortrag Ueber musikalische Phrasirung (Fuchs
1884, 6-22), der die „Vervollkommnung unserer Notenschrift" als Ziel benennt,
„welche dieselbe in den Stand setzen soll, jederzeit die Phrasirung und motivi-
sche Gliederung direct zu veranschaulichen und dadurch dem ausübenden
Tonkünstler das Treffen des richtigen Ausdruckes zu erleichtern" (ebd., 6). Der
Begriff der „Phrasierung", den N. „hässlich" findet, hat bald schon Eingang in
die zeitgenössischen Lexika gefunden, die darunter „die deutliche Gliederung
musikalischer Gedanken durch den Vortrag" verstehen: „Gut phrasieren ist
eine schwere Kunst, weil unsre Notenschrift; wie sie heute ist, besonderer Zei-
chen für die Phrasengrenzen und Motivgrenzen entbehrt; als solche hat neuer-
dings (1882) H. Riemann den jetzt zur Anzeigung des Legatovortrags gebrauch-
ten Bogen (für die Phrase) und einen kleinen, eine Linie des Liniensystems
durchschneidenden Strich, das Lesezeichen (für die motivische Untergliede-
rung), vorgeschlagen" (Meyer 1885-1892, 13, 29). Entsprechend „phrasierte"
Ausgaben musikalischer Werke hat Riemann gleichfalls vorgelegt, um seine
Theorie auch in ihrer Praxiswirksamkeit zu beglaubigen. Noch nach der Fertig-
stellung von WA äußert sich N. über diese „phrasierten Ausgaben" am 26. 08.
1888 brieflich gegenüber Fuchs sehr abfällig: sie seien „eine bösartige Schul-
meisterei" (KSB 8, Nr. 1096, S. 400, Z. 47 f.), da man meist gar nicht bestimmen
könne, welche „Phrase" denn überhaupt richtig sei. „Kurz, der alte Philo-
loge sagt, aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus: es giebt keine
alleinseligmachende Interpretation, weder für Dichter, noch für
Musiker" (ebd., Z. 58-61). Entscheidend ist nun die Fuchs gegenüber übrigens
schon im April 1886 geäußerte (KSB 7, Nr. 688, S. 176-179), 1888 wiederholte
grundsätzliche Kritik, dass N. die Phrasierungslehre für den musiktheoreti-
schen Ausdruck jenes Miniaturismus hält, jener Konzentration auf die kleinst-
möglichen Einheiten, die ihm — mit Bourget — als decadence-lndiz gilt: „wir
betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Theile, wie sie in
der Musik zur Praxis Wagner's gehört und von da aus zu einem fast herr-
schenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit
verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Ver-
falls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen
zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriirt. Die ,Phrasirung' wäre
demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders
ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu über-
spannen — eine Entartungsform des Rhythmischen..." (KSB 8, Nr. 1096,
S. 401, Z. 74-84) Dass Fuchs ihn weiter mit umfangreichen brieflichen Expekto-
rationen zum Thema Phrasierung behelligte, empfand N. mehr und mehr als
eine Belästigung: „In Nizza will man mich durchaus für Mars-Bewohner inte-
ressiren; man hat dort die stärksten Teleskope Europa's für dies Gestirn. Frage:
 
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