Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0187
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
168 Der Fall Wagner

chen D(eutschland)'s Genie, das nichts gelernt hat: ausgenommen was es von
den Vöglein gelernt hat". Denn der Held Walther von Stolzing ist kein gelernter
Sänger, sondern ein Naturtalent. Wahre Kunst fällt, wie Hans Sachs Stolzing
im 3. Aufzug erklärt, dem Künstler sozusagen im Schlafe zu: „Glaubt mir, des
Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgethan: / all' Dichtkunst
und Poeterei / ist nichts als Wahrtraum-Deuterei." (Wagner 1871-1873, 7, 317 =
Wagner 1907, 7, 235) N. zitiert diesen Passus in GT 1, KSA 1, 26, 17-20.
42, 14-17 die Theatrokratie —, den Aberwitz eines Glaubens an den Vor-
rang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters über die
Künste, über die Kunst...] Der Begriff der Theatrokratie, den N. hier gleich als
„Herrschaft des Theaters" wörtlich übersetzt, hat er keineswegs erfunden; viel-
mehr stammt er von Platon, der in den Nomoi (III, 701a) den Verfall der Aristo-
kratie und die Herrschaft des allgemeinen Publikums als OeaTpoKpaTia
anprangert (vgl. zur Parallele mit N. auch Ottmann 1999, 151). N. benutzt ihn
bereits in NL 1874, KSA 7, 32[61], 775, 5-10 mit wagnerkritischer Spitze: „Wagner
versucht die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch vorhandenen Basis
aus, vom Theater aus: hier wird doch wirklich noch eine Masse aufgeregt
und macht sich nichts vor wie in Museen und Concerten. Freilich ist es eine
sehr rohe Masse, und die Theatrokratie wieder zu beherrschen hat sich bis
jetzt noch als unmöglich erwiesen."
42, 17-22 Aber man soll es den Wagnerianern hundert Mal in's Gesicht sagen,
was das Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas
Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtge-
logenes! Daran hat auch Wagner Nichts verändert: Bayreuth ist grosse Oper —
und nicht einmal gute Oper...] 1874 war N. nach Ausweis der in NK 42, 14-17
mitgeteilten Nachlassnotiz noch bereit, mit Wagner das Theater als die „ein-
zige[.] noch vorhandene[.] Basis" einer umfassenden Erneuerung der Kunst zu
sehen, so sehr er schon damals das Theater als jene Kunstform betrachtete, in
der die „Masse" zur Herrschaft gelange. 1888 hingegen spricht N. dem Theater
alles Erneuerungspotential ab und macht es vielmehr für den Verfall der Kunst
verantwortlich.
Die „Große Oper" oder Grand opera wurde in den 1820er Jahren in Paris
erfunden, umfasste jeweils vier oder fünf Akte und brachte auch ein langes
Ballet auf die Bühne. Wagner hatte sich 1839 vom Hauptrepräsentanten des
Grand opera Giacomo Meyerbeer Protektion beim Versuch erhofft, selbst an
der Pariser Oper zu reüssieren. Als diese Hoffnung enttäuscht wurde, wandte
sich Wagner von Meyerbeer und seiner „Großen Oper" ab. Entsprechend scharf
fielen 1851 in Ein Theater in Zürich seine Invektiven gegen die „Große Oper"
aus: „Diese goldflimmernde große Oper ist nun an und für sich nur eine Schale
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften