194 Der Fall Wagner
53, I f. Nicht ohne Grund nannte ich Wagner den Cagliostro der Modernität...]
Vgl. NK 23, 4-7.
53,6-10 Eine Diagnostikder modernen Seele — womit begönne sie? Mit
einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt- Widersprüchlichkeit, mit der Herauslö-
sung ihrer Gegensatz-Werthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehr-
reichsten Fall.] Das Problem der Gegenwart, für das Wagner das Leitsymptom
ist, besteht nach WA Epilog nicht etwa darin, dass die „christ1ichen Werthbe-
griffe" (50, 20 f.) des Niedergangs und der Verneinung zu neuer Dominanz
gelangt wären, sondern dass diese Wertbegriffe mit denjenigen der „Herren-
Moral" (50, 20) zu einer neuen Synthese gebracht werden. Das führt jene „In-
stinkt-Widersprüchlichkeit" (53, 7 f.) herbei, die N. nun zum Angelpunkt seiner
Auseinandersetzung mit Wagner macht. Nach EH Warum ich ein Schicksal bin 7,
KSA 6, 372, 20-23 ist das „Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Wider-
sprüchlichkeit" der „Verlust an Schwergewicht", die „,Entpersönlichung'" und
„,Nächstenliebe' (— Nächstensucht!)". Allerdings tritt nach WA Epilog die
eigentliche „Instinkt-Widersprüchlichkeit" erst mit der Vermengung der in EH
Warum ich ein Schicksal bin 7 genannten christlich-moralischen Werte mit den
Werten der „Herren-Moral" auf — darin zeigt sich die „moderne Seele", deren
„Diagnostik" N. unternimmt. Bei bloßer Oberflächen-Diagnostik bleibt es jedoch
nicht; der Diagnostiker agiert mit dem Skalpell und will tiefe Einschnitte vorneh-
men. Die Grenze der Diagnose zur Therapie wird fließend; Wagner indes — als
„Fall" ganz im medizinischen Sinne verstanden — wird einer Vivisektion unter-
zogen, die für ihn vermutlich verheerend ausfällt, auch wenn sie dann — unter
der Präambel einer „Umwerthung aller Werthe" — für die „moderne Seele" insge-
samt heilsame Folgen zu haben verspricht.
Die Vivisektion ist „ein Experiment am lebendigen Tier ([...]), welches mit
einer Verwundung desselben verbunden ist und vom Physiologen zur Erfor-
schung von Lebenserscheinungen vorgenommen wird" (Meyer 1885-1892, 16,
237). Wagner hatte in seinem Offenen Schreiben an Herrn Ernst von Weber,
Verfasser der Schrift „Die Folterkammern der Wissenschaft" (1879) vehement
gegen die Vivisektion an Tieren Stellung genommen und dort indirekt auch
gegen N.s Ablehnung des Mitleids polemisiert (siehe KGB III 7/1, S. 25). Jetzt
will ihn N. selbst vivisezieren.
53, 10 f. Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall] N. nimmt
diese Wendung in GD Vorwort wieder auf, vgl. NK KSA 6, 57, 11 f. In seinem
Brief an Naumann vom 12. 08. 1888 bemerkt N. zu WA Epilog: „Zu ihm habe
ich heute morgen noch ein paar sehr substantielle Schlußworte geschrieben,
die der Schrift eine bedeutende Rückbeziehung auf meine letztveröffentlichte
Schrift geben." (KSB 8, Nr. 1089, S. 390, Z. 6-9) Vgl. zur Interpretation NK 9, 1.
53, I f. Nicht ohne Grund nannte ich Wagner den Cagliostro der Modernität...]
Vgl. NK 23, 4-7.
53,6-10 Eine Diagnostikder modernen Seele — womit begönne sie? Mit
einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt- Widersprüchlichkeit, mit der Herauslö-
sung ihrer Gegensatz-Werthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehr-
reichsten Fall.] Das Problem der Gegenwart, für das Wagner das Leitsymptom
ist, besteht nach WA Epilog nicht etwa darin, dass die „christ1ichen Werthbe-
griffe" (50, 20 f.) des Niedergangs und der Verneinung zu neuer Dominanz
gelangt wären, sondern dass diese Wertbegriffe mit denjenigen der „Herren-
Moral" (50, 20) zu einer neuen Synthese gebracht werden. Das führt jene „In-
stinkt-Widersprüchlichkeit" (53, 7 f.) herbei, die N. nun zum Angelpunkt seiner
Auseinandersetzung mit Wagner macht. Nach EH Warum ich ein Schicksal bin 7,
KSA 6, 372, 20-23 ist das „Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Wider-
sprüchlichkeit" der „Verlust an Schwergewicht", die „,Entpersönlichung'" und
„,Nächstenliebe' (— Nächstensucht!)". Allerdings tritt nach WA Epilog die
eigentliche „Instinkt-Widersprüchlichkeit" erst mit der Vermengung der in EH
Warum ich ein Schicksal bin 7 genannten christlich-moralischen Werte mit den
Werten der „Herren-Moral" auf — darin zeigt sich die „moderne Seele", deren
„Diagnostik" N. unternimmt. Bei bloßer Oberflächen-Diagnostik bleibt es jedoch
nicht; der Diagnostiker agiert mit dem Skalpell und will tiefe Einschnitte vorneh-
men. Die Grenze der Diagnose zur Therapie wird fließend; Wagner indes — als
„Fall" ganz im medizinischen Sinne verstanden — wird einer Vivisektion unter-
zogen, die für ihn vermutlich verheerend ausfällt, auch wenn sie dann — unter
der Präambel einer „Umwerthung aller Werthe" — für die „moderne Seele" insge-
samt heilsame Folgen zu haben verspricht.
Die Vivisektion ist „ein Experiment am lebendigen Tier ([...]), welches mit
einer Verwundung desselben verbunden ist und vom Physiologen zur Erfor-
schung von Lebenserscheinungen vorgenommen wird" (Meyer 1885-1892, 16,
237). Wagner hatte in seinem Offenen Schreiben an Herrn Ernst von Weber,
Verfasser der Schrift „Die Folterkammern der Wissenschaft" (1879) vehement
gegen die Vivisektion an Tieren Stellung genommen und dort indirekt auch
gegen N.s Ablehnung des Mitleids polemisiert (siehe KGB III 7/1, S. 25). Jetzt
will ihn N. selbst vivisezieren.
53, 10 f. Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall] N. nimmt
diese Wendung in GD Vorwort wieder auf, vgl. NK KSA 6, 57, 11 f. In seinem
Brief an Naumann vom 12. 08. 1888 bemerkt N. zu WA Epilog: „Zu ihm habe
ich heute morgen noch ein paar sehr substantielle Schlußworte geschrieben,
die der Schrift eine bedeutende Rückbeziehung auf meine letztveröffentlichte
Schrift geben." (KSB 8, Nr. 1089, S. 390, Z. 6-9) Vgl. zur Interpretation NK 9, 1.