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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0226
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Überblickskommentar 207

also die decadence an sich selbst überwinde. Die historischen Exkurse von GD,
ob sie die Griechen, Manu, das Römische Reich oder die Deutschen betreffen,
zeigen stets vergleichbare Verfallsbewegungen: Trotz autoritärer Ursprungs-
strukturen und trotz Menschen-Domestizierung mit gewaltsamen Mitteln ereig-
net sich in N.s Geschichtserzählungen gesellschaftliche Disgregation. Mit ihr
treten Figuren wie Sokrates, die Tschandala oder die Christen, kurzum deca-
dents auf. Es gibt offenbar, ungeachtet der unterschiedlichen Umstände, eine
gewisse Zwangsläufigkeit dieses Niedergangs — obwohl N. in einem Anti-deca-
dence-Crescendo gerade die Tatkraft seiner Leser gegen den Verfall mobilisie-
ren zu wollen scheint.
N. verweigert sich mit den ständigen Brüchen im Text von GD, den steten
Wechseln im Duktus, in der Sprachmelodie und in der Stimmung, jeder Art
des festlegenden Sprechens, wie es nach GD Die „Vernunft" in der Philosophie
1 (74, 2-75, 8) gerade für die Philosophen bisher charakteristisch war. Ein Phi-
losophieren, das das Werden privilegiert, kann allenfalls durch Setzungen, die
immer durch entgegenstehende Setzungen konterkariert werden, seinen ange-
messenen Ausdruck finden. Auch im Blick auf die fundamentale Sprachkritik,
die insbesondere in GD Die „Vernunft" in der Philosophie 5 (77, 1-78, 13) und
in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 26 (128, 20-28) artikuliert wird (wo die
Struktur von Sprache dafür verantwortlich gemacht wird, dass wir in bestimm-
ten Kategorien denken, die vielleicht keinen Anhalt in der Realität haben), gilt
dieser Selbstaufhebungszwang: Sprachkritik kann sich nur sprachlich äußern;
daher muss Sprache in GD alle Setzungen immer wieder suspendieren, um
auf die Möglichkeit einer Wirklichkeit jenseits der sprachlichen Denkzwänge
aufmerksam zu machen.
In GD fungiert das aufstrebende, sich selbst bejahende Leben als Kriterium
aller Urteile über Niedergang und Nihilismus. Damit scheint „Leben" bloß an
die Stelle des Guten in herkömmlichen moralischen Urteilen zu treten. Man
könnte argumentieren, N. reproduziere trotz seiner vehementen Moralkritik mit
seinen am Maßstab des Lebens ausgerichteten Urteilen die Struktur morali-
schen Urteilens. Daran würde sich die Frage knüpfen, ob er dies faute de mieux
oder im Zuge einer besonders listigen Selbstneutralisierung des moralischen
Urteilens durch Moral tue. Jedenfalls bestimmt der moralgenealogische
Gedanke als Voraussetzung des Umwertungsunternehmens auch GD.

5 Stellenwert von Götzen-Dämmerung in N.s Schaffen
GD stand lange im Schatten anderer Werke N.s — insbesondere, solange man
an ein irgendwie im Nachlass verborgenes Hauptwerk „Der Wille zur Macht"
 
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