Überblickskommentar 209
Also sprach Zarathustra und der Geburt der Tragödie sowie der Anti-Wagner-
Schriften von 1888 —, als auf Schlagworte und Stimmungen. Daher wird N. in
Anspielung auf GD gerne als Götzenzertrümmerer gesehen, man bemüht seine
„blonde Bestie" (vgl. NK 99, 17-32) oder zitiert markige Sprüche aus dem Werk
und passt sie der jeweiligen Lektüresituation an (vgl. z. B. NK 60, 8 f.). Die
Rezeption eines Einzelwerkes wie GD ist jedoch kaum abzugrenzen von der
Gesamtrezeption des Phänomens N. Auffällig ist vor allem, wie stark die Rezep-
tion von GD entgegen den in NK ÜK GD 4 dargelegten Textstrategien das Werk
auf bestimmte Doktrinen wie etwa die „ewige Wiederkunft" (vgl. NK 160, 29 f.)
festlegte und damit verkürzte. Der häufig apodiktische Ton in GD dürfte solche
Rezeptionen begünstigt haben.
Die erste öffentliche Wahrnehmung des gedruckten Werkes stand Anfang
1889 unter dem Eindruck von N.s geistigem Zusammenbruch. So heißt es in
einem Brief von Joseph Viktor Widmann an Carl Spitteler vom 20. Januar 1889,
N. sei „einer der seltenen", „die man verteidigen muß gegen den geistigen
Pöbel, der die Übermacht der Mehrheit besitzt. Aber anderseits kann ein sol-
cher Mann doch auch nicht klanglos in den Orkus geworfen werden zu den
auf immer Toten, von denen niemand weiß, wie sie weggekommen sind. Dies
um so weniger, als soeben von ihm wieder ein neues Buch herausgekommen
ist, das auch mir gestern zuging: Götzendämmerung. In demselben stehen die
wunderbarsten Gedanken voll Wahrheit und Kraft neben den albernsten Ein-
fällen [...]. Je mehr ich in Nietzsches neuem Buche lese und je mehr ich mir
vorstelle, welche Genugtuung speziell die Basler Mucker und Bourgeois und
just-milieu-Leute über diesen Fall [sc. die Umnachtung] empfinden müssen,
desto mehr erkenne ich das Ereignis für ein eigentliches Unglück an, das uns
alle betroffen hat [...]. Daß Nietzsche gerade in der Christenstadt Basel wahn-
sinnig untergebracht sein muß, nachdem sein letztes Buch das Christentum
mit so wildem echtem Naturhaß angegriffen!" (Zitiert nach Kr I, 161) N.s Freund
Franz Overbeck, dem sich die Frage stellte, was aus N.s Hinterlassenschaft nun
in welcher Form zu publizieren sei, schreibt am 22. Januar 1889 an Erwin
Rohde, GD zeige „keine Spur von Wahnsinn, höchstens bei ein paar Stellen
den drohenden Grössenwahn, sonst gewaltsam wie immer, aber von Geist fun-
kelnd und Alles lucid, wunderbar lucid, und straff auf das Ziel, dem der Verf.
zusteuert, gerichtet" (Overbeck / Rohde 1990, 133). Rohde ist in seiner Antwort
vom 24. Januar 1889 viel skeptischer: „wollen Sie wirklich seine so zu s(agen)
posthuma herausgeben? mir macht der Gedanke schon ein Grausen. Nun gar
der fratzenhafte Titel ,Götzen-Dämmerung'!" (Ebd., 135) In Overbecks Brief an
Heinrich Köselitz vom 27. Januar 1889 heißt es: „Sie sagen nichts von der Göt-
zendämmerung? Soll ich das dahin verstehen, dass sie sofort in die Welt ausge-
hen soll? Hiergegen hätte ich nun, nachdem ich sie gelesen, nichts. Denn wenn
Also sprach Zarathustra und der Geburt der Tragödie sowie der Anti-Wagner-
Schriften von 1888 —, als auf Schlagworte und Stimmungen. Daher wird N. in
Anspielung auf GD gerne als Götzenzertrümmerer gesehen, man bemüht seine
„blonde Bestie" (vgl. NK 99, 17-32) oder zitiert markige Sprüche aus dem Werk
und passt sie der jeweiligen Lektüresituation an (vgl. z. B. NK 60, 8 f.). Die
Rezeption eines Einzelwerkes wie GD ist jedoch kaum abzugrenzen von der
Gesamtrezeption des Phänomens N. Auffällig ist vor allem, wie stark die Rezep-
tion von GD entgegen den in NK ÜK GD 4 dargelegten Textstrategien das Werk
auf bestimmte Doktrinen wie etwa die „ewige Wiederkunft" (vgl. NK 160, 29 f.)
festlegte und damit verkürzte. Der häufig apodiktische Ton in GD dürfte solche
Rezeptionen begünstigt haben.
Die erste öffentliche Wahrnehmung des gedruckten Werkes stand Anfang
1889 unter dem Eindruck von N.s geistigem Zusammenbruch. So heißt es in
einem Brief von Joseph Viktor Widmann an Carl Spitteler vom 20. Januar 1889,
N. sei „einer der seltenen", „die man verteidigen muß gegen den geistigen
Pöbel, der die Übermacht der Mehrheit besitzt. Aber anderseits kann ein sol-
cher Mann doch auch nicht klanglos in den Orkus geworfen werden zu den
auf immer Toten, von denen niemand weiß, wie sie weggekommen sind. Dies
um so weniger, als soeben von ihm wieder ein neues Buch herausgekommen
ist, das auch mir gestern zuging: Götzendämmerung. In demselben stehen die
wunderbarsten Gedanken voll Wahrheit und Kraft neben den albernsten Ein-
fällen [...]. Je mehr ich in Nietzsches neuem Buche lese und je mehr ich mir
vorstelle, welche Genugtuung speziell die Basler Mucker und Bourgeois und
just-milieu-Leute über diesen Fall [sc. die Umnachtung] empfinden müssen,
desto mehr erkenne ich das Ereignis für ein eigentliches Unglück an, das uns
alle betroffen hat [...]. Daß Nietzsche gerade in der Christenstadt Basel wahn-
sinnig untergebracht sein muß, nachdem sein letztes Buch das Christentum
mit so wildem echtem Naturhaß angegriffen!" (Zitiert nach Kr I, 161) N.s Freund
Franz Overbeck, dem sich die Frage stellte, was aus N.s Hinterlassenschaft nun
in welcher Form zu publizieren sei, schreibt am 22. Januar 1889 an Erwin
Rohde, GD zeige „keine Spur von Wahnsinn, höchstens bei ein paar Stellen
den drohenden Grössenwahn, sonst gewaltsam wie immer, aber von Geist fun-
kelnd und Alles lucid, wunderbar lucid, und straff auf das Ziel, dem der Verf.
zusteuert, gerichtet" (Overbeck / Rohde 1990, 133). Rohde ist in seiner Antwort
vom 24. Januar 1889 viel skeptischer: „wollen Sie wirklich seine so zu s(agen)
posthuma herausgeben? mir macht der Gedanke schon ein Grausen. Nun gar
der fratzenhafte Titel ,Götzen-Dämmerung'!" (Ebd., 135) In Overbecks Brief an
Heinrich Köselitz vom 27. Januar 1889 heißt es: „Sie sagen nichts von der Göt-
zendämmerung? Soll ich das dahin verstehen, dass sie sofort in die Welt ausge-
hen soll? Hiergegen hätte ich nun, nachdem ich sie gelesen, nichts. Denn wenn