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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0229
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210 Götzen-Dämmerung

ich auch persönlich N. z. B. in der Genealogie der Moral lieber lese als in
seinen ,Erholungen', so sehe ich doch nicht ein was selbst bei der ausseror-
dentlichen Ungunst des Augenblicks diesem wahrhaft erstaunlichen Füllhorn
von Geist und Einsicht, da es bis aufs Letzte bereit ist sich auszuschütten,
hiergegen in entscheidender Weise im Wege stehen soll. Tritt doch diese Schrift
nirgends aus dem bisherigen Rahmen der N'schen Litteratur heraus und ruft
auch keinen anderen Leser an als die bisher von ihm erworbenen." (Overbeck /
Köselitz 1998, 221).
Immerhin stieg Gustav Naumann zufolge mit der Publikation von GD auch
der Absatz von JGB und GM „sprungweise" (zitiert nach Hoffmann 1991, 564).
Zu den Lesern, die N. durch GD kennenlernen, zählt etwa der Dichter Detlev
von Liliencron (1844-1909), der sich brieflich schon früh begeistert zeigte —
wie es scheint, besonders über die Wortspiele (vgl. Kr I, 163) — , aber auch der
Kunsthistoriker Wilhelm Uhde (1874-1947) und der Schriftsteller Heinrich Ernst
Wachler (1871-1945) (vgl. Kr I, 164 f.).
Das Spektrum der zeitgenössischen Rezensionen reichte — im einzelnen in
Kr I nachzulesen — von Hohn und Ablehnung bis zu vorbehaltloser Begeiste-
rung. Auch Joseph Viktor Widmann reiht sich in seiner Besprechung im Berner
Bund vom 7. März 1889 (Kr I, 168) in die Gruppe der zustimmenden Rezensen-
ten ein, obwohl er selbst in GD nicht gerade freundlich behandelt worden war
(vgl. NK 136, 17-21). Die Kritiker zeigen sich zunehmend bereit, N.s Selbstcha-
rakterisierungen für bare Münze zu nehmen und seine Metaphorik weiterzu-
spinnen. In einer Anzeige der GD von Fritz Hammer heißt es z. B.: „Die Nietz-
scheschen Schriften folgen jetzt Schlag auf Schlag nacheinander, wie bei einem
großen, schönen Gewitter die Donnerschläge — Nietzsche ist ein solches Gewit-
ter am dumpfen europäischen Kulturhimmel" (zitiert nach Kr I, 169). An der
frühen Rezeption von GD lassen sich alle Anzeichen des N.-Kultes ablesen, der
sich in den neunziger Jahren entwickelte (vgl. Aschheim 2000, 17-50, ferner
Cancik 1987 u. Thomas 1983) und jene Exaltation adaptierte, die N.s Spätschrif-
ten eigen war. Die spezifische Gestalt von GD verlor sich im allgemeinen Nietz-
scheanismus.
In der jüngeren Forschung genießen die Schriften des Jahres 1888, unter
ihnen GD, einen zweifelhaften Ruf: Zu viel scheint N. in seinem letzten Schaf-
fensjahr gewollt zu haben, als dass er sich, so Giorgio Colli in seinem Nachwort
zur KSA, für die Komposition seiner Schriften „das architektonische Gefühl"
(KSA 6, 449) bewahrt hätte. Die Exaltation — mag sie nun pathologisch bedingt
oder rhetorische Strategie sein —, die viele Leser um die Jahrhundertwende
anzog, wirkt heute eher befremdend. Dank der Vielgestaltigkeit und Zentrums-
losigkeit des Textes scheinen freilich vielfältigste Interpretationen möglich.
 
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