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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0239
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220 Götzen-Dämmerung

(EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 302, 7 f.), um sich damit von
„Langohr"-Eseln abzugrenzen.
58, 2 für mich alten Psychologen und Rattenfänger] In GD ist die Selbstcharak-
terisierung als Psychologe sehr dominant: N. unterminiert bestehende Weltan-
sichten und Überzeugungen psychologisch (vgl. z. B. Niemeyer 2002, 54 f. u.
Niemeyer 1998). Zum methodischen Profil dieser weit jenseits üblicher Diszip-
lingrenzen angesiedelten Psychologie geben GD Sprüche und Pfeile 35 (KSA 6,
64 f.), Streifzüge eines Unzeitgemässen 7 (KSA 6, 115 f.) und 15 (KSA 6, 121)
Auskunft, wobei der Begriff der Psychologie (in Verbindung mit einem spezifi-
zierenden Genitiv) häufig keine Wissenschaft, sondern die innere Befindlich-
keit einer Sache selbst bezeichnet (z. B. „Psychologie des Irrthums"
KSA 6, 95, 4 f.; „Psychologie des Künstlers" 116, 4; „Psychologie des
Orgiasmus" 160, 6). Es gibt in GD durchaus auch einen abwertenden Gebrauch
von „Psychologie", vgl. NK 76, 4-6, parallel in AC vgl. NK KSA 6, 198, 32.
In der psychologischen Entlarvung erschöpft sich die Rolle des sprechen-
den Ichs offenkundig nicht, vielmehr will es als „Rattenfänger" zugleich ein
Verführer zum Neuen, noch Ungehörten sein. In einem Entwurf zum Vorwort
in Heft W II 8, 134 war der Psychologe als „alter Musikant", noch nicht als
„Rattenfänger" charakterisiert worden (KSA 14, 411). (Goethes Ballade Der Rat-
tenfänger könnte N. bei der Lektüre von Hehn 1888, 124 [wieder]begegnet sein).
In M 206, wo in N.s Werk das Wort erstmals auftaucht, sind es noch „socialisti-
sche[.] Rattenfänger" (KSA 3, 184, 13, 2 f.), von denen N. sich abgrenzt, ebenso
wie von Sokrates als „Rattenfänger" in FW 340 (KSA 3, 569, 18), der im Unter-
schied zum mythologischen Flötenspieler Marsyas (und zum Rattenfänger von
Hameln) keine Flöte, sondern nur seine dialektische Rede brauchte, um seine
jungen männlichen Zuhörer zu betören (Platon: Symposium, 215c-216a). In GT
Versuch einer Selbstkritik 7 richtet N. an seinen philosophischen Erstling selbst
die Frage, ob daraus nicht ein romantisch-pessimistischer Rattenfänger spre-
che (KSA 1, 21). Damit ist der allmähliche Übergang im Gebrauch des Wortes
„Rattenfänger" zur Selbstinterpretation markiert. Auch in der Charakterisie-
rung des Philosophen in JGB 205 (KSA 5, 132) zeigt er sich. Die Entwicklung
kulminiert in der Identifikation von „Versucher-Gott" Dionysos und „Ratten-
fänger" (JGB 295, KSA 5, 237, 3, vgl. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 6,
KSA 6, 307). Die Zusammenstellung von Psychologe und Rattenfänger in 58, 2
veranschaulicht, dass es N. in GD keineswegs nur um demaskierende Aufklä-
rung, sondern ebenso um metaliterarisch-politische Wirksamkeit zu tun ist
(vgl. Born 2008) — es sei denn, man läse den Ausdruck „Rattenfänger" hier
buchstäblich und sähe in den Götzen die einzusammelnden und zu eliminie-
renden Ratten. Die Rattenfängerei hat man N. nicht immer zum Besten ausge-
legt: „Heiliges Bockshorn, dieser Rattenfänger von Sehnsuchtshausen! Merkt
 
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