Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0241
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
222 Götzen-Dämmerung

helle Fleck gemeint, den ein einzelner Sonnenstrahl auf einer Fläche verur-
sacht, die sonst im Schatten oder doch nicht im direkten Sonnenlicht liegt.
58, 7-9 Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen ausge-
horcht?... Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung] Vgl. NK 57,
12-14. Die Verschränkung von scheinbar unvereinbaren Metaphernfelder ist
charakteristisch für GD Vorwort: Medizin (Verwundung, Aushorchen), Akustik/
Musik, Hand-Werk (Hammer), Religion (Götzen), Heiterkeit/Erholung, Krieg
werden amalgamiert, so dass der Leser im Ungewissen darüber bleibt, was er
von der vorliegenden Schrift zu erwarten habe (zu dieser Vieldeutigkeit der
Schrift erhellend N.s Brief an Overbeck, 18. 10. 1888, KSB 8, Nr. 1132, S. 453).
Tatsächlich bietet GD sowohl in der Wahl der Themen wie der Stile ein sehr
breites Spektrum, das von Erholung bis Krieg reicht. Statt „neue Götzen ausge-
horcht" (58, 8) hatte es in einem Entwurf von Heft W II 8, 134 geheißen: „wie-
der Götter umgeworfen" (KSA 14, 411).
58, 9-13 und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal
keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit
einer Stimmgabel gerührt wird, — es giebt überhaupt keine älteren, keine über-
zeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen...] Die in WA geführte Auseinanderset-
zung mit Wagner lässt sich als Kampf gegen einen „Zeitgötzen" verstehen,
während mit den, wie N. zeigen wird, sehr wohl historisch entstandenen, nur
scheinbar „ewigen Götzen" die großen Begriffe und Denkgefüge der religiösen,
metaphysischen und moralischen Tradition des Abendlandes gemeint sind.
Aber bei Namen nennt N. in GD Vorwort die Götzen nicht.
58, 11 f. an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird]
Vgl. NK 57, 22. Es muss hier kein Bildbruch vorliegen, da die Stimmgabel durch-
aus auch im medizinisch-diagnostischen Gebrauch war, was N. aus seinen
medizinischen Lektüren wissen konnte, vgl. z. B. Foster 1881, 41-44 (Lesespur
N.s auf S. 44, NPB 231). Bei einer Stimmgabel hört man freilich nicht den Ton,
den das damit angeschlagene Objekt selbst von sich gibt, sondern den Ton der
Stimmgabel. Intensität und Lautstärke des Stimmgabel-Tons hängen aber vom
Objekt ab, an das die Stimmgabel angeschlagen und auf das sie dann abge-
stützt wird. Hohle Gegenstände (vgl. 57, 23) bieten einen sehr guten Resonanz-
raum. Wer die Stimmgabel benutzt, schließt also indirekt auf die Beschaffen-
heit des angeschlagenen Gegenstandes. Diese Indirektheit und Vermitteltheit
des Erkenntnisweges ließe sich als Beschreibung der in GD angewandten
Methode verstehen: Sie problematisiert die Möglichkeit eines direkten ,Durch-
greifens' auf die Wirklichkeit. Die Metapher der Stimmgabel lässt sich auch
zur Beschreibung des Verhältnisses von Text und Leser verwenden, vgl. NK ÜK
GD.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften