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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0247
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228 Götzen-Dämmerung

äußerst einfache, plausibele Irrthümer. Die objective, manchen Phänomenen
selbst eigenthümliche Einfachheit ist etwas Anderes als subjective Einfachheit
der Theorieen. Letztere dürfen wir, wo das Phänomen sie überhaupt gestattet,
stets verlangen, fordern, ja in einem gewissen Sinne als Kriterium betrachten,
insofern unter mehreren zum gleichen Ziele führenden Erklärungsversuchen
stets der einfachere und ungezwungenere vor dem verwickelten, gekünstelten
und unbeholfeneren den Vorzug verdient. Erstere aber läßt sich nicht postuli-
ren, sondern nur dankbar hinnehmen. Wo das Phänomen selbst räthselhaft,
geheimnißvoll, den Grenzen der Begreiflichkeit halb oder ganz entrückt
erscheint, da wird ungründliches Denken leicht dazu verführt, eine seichte
Scheinerklärung zu liefern, welche die Probleme ungelöst hinunterschluckt
und ungelöst wieder von sich gibt. In solchen räthselhaften Fällen muß Ein-
fachheit der Theorie Mißtrauen erwecken, nicht Vertrauen. Oft genug wird obi-
ger Spruch, wie das berühmte Ei des Columbus, zum Vorwande der Denkfaul-
heit, Oberflächlichkeit und eines Dilettantismus, der sich leichten Herzens das
Schwierige ersparen möchte, um allein das Leichtverdauliche zu genießen."

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59, 16 f. Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. — Die Weisheit zieht
auch der Erkenntniss Grenzen.] Während GD Sprüche und Pfeile 2 (59, 6 f.)
selbst bei dem „Muthigste[n] von uns" meist den Mut fehlen sieht, zu wissen,
was man eigentlich weiß — womit N. implizit für sich und sein Umwertungsun-
ternehmen gerade diesen Mut in Anspruch zu nehmen scheint, wie er es in AC
und EH explizit tut (vgl. NK zu KSA 6, 167 und 259) —, reproduziert GD Sprüche
und Pfeile 5 scheinbar den alten philosophischen Affekt gegen bloße Vielwis-
serei: Erkenntnisbeschränkung als Mittel der intellektuellen Diätetik zur Erlan-
gung von Weisheit ist eine geradezu sokratische Haltung. 59, 16 f. ist die ein-
zige Stelle in GD, in der „Weisheit" mit positiver Konnotation gebraucht wird,
während N. im Frühwerk durchaus ein positives Verhältnis zur („dionysi-
schen") Weisheit pflegt, vgl. z. B. GT 18, KSA 1, 118, 28 f. Die anderen drei
Stellen in GD Das Problem des Sokrates 1 (67, 18), 2 (68, 21) und 12 (73, 13)
indizieren keine Parteinahme für das sokratische Weisheitsinteresse. Die starke
Spannung zwischen GD Sprüche und Pfeile 2 und 5 zeigt exemplarisch, wie N.
an einer ständigen Selbstaufhebung einmal gemachter, scheinbar apodikti-
scher Aussagen interessiert ist. Diese Selbstaufhebungsfiguren (Zittel 1995, vgl.
Skirl 2005) sind gerade im vermeintlich so gesetzgeberisch-gebietenden Spät-
werk N.s weit verbreitet und Bestandteil eines skeptischen Verunsicherungsver-
 
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