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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0267
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248 Götzen-Dämmerung

digenden philosophischen System gelangt sei, hätte N. freilich zurückgewie-
sen. Offenkundig beharrte er auf der anhaltenden Nichtsystematisierbarkeit
der Wirklichkeit und der Wirklichkeitsrezeption.
Vorbehalte gegenüber der Systematisierung des Denkens hatte N. freilich
schon lange vor der Roberty-Lektüre artikuliert. So heißt es beispielsweise in
M 318, KSA 3, 228, 9-14: „Vorsicht vor den Systematikern! — Es giebt
eine Schauspielerei der Systematiker: indem sie ein System ausfüllen wollen
und den Horizont darum rund machen, müssen sie versuchen, ihre schwäche-
ren Eigenschaften im Stile ihrer stärkeren auftreten zu lassen, — sie wollen
vollständige und einartig starke Naturen darstellen." Eine solche Psychologi-
sierung, die den Anschein erzeugt, über die Persönlichkeitsbeschaffenheit der
Systematiker genau unterrichtet zu sein, unterbleibt in 63, 8 f., obwohl auch
da beim Systematiker ein charakterlicher Mangel diagnostiziert wird. Nicht nur
die Verknappung zur Sentenz führt zum Verzicht auf Äußerungen zur Persön-
lichkeitsbeschaffenheit des Systematikers, sondern die Sache selbst: Impliziert
denn die Version von M 318 nicht selbst eine Systematisierung, nämlich eine
dem Anspruch nach systematisch-allgemeingültige Aussage über sämtliche
Systematiker? In 63, 8 f. steht statt systematisch-allgemeingültiger Aussagen
zunächst das (unsystematische?) Misstrauen, das jedoch im zweiten Satz wie-
derum zu einer Verallgemeinerung ausholt, die gleichfalls systematisch ver-
standen werden kann. Dann könnte man versucht sein, 63, 8 f. als ironische
Selbstaufhebungsfigur zu lesen. N.s Aphorismenbücher lassen sich insgesamt
verstehen als performativ artikulierter Vorbehalt gegenüber der Suggestion sys-
tematischer Geschlossenheit, wie sie etwa von wissenschaftlichen Abhandlun-
gen erzeugt wird. Aphorismenbücher oder Bücher von gemischter Textur wie
GD könnten so als literarisch adäquater Ausdruck der in 63, 8 f. angemahnten
Rechtschaffenheit erscheinen. Zur Rechtschaffenheit vgl. NK KSA 6, 177, 5.
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63, 11 f. Man hält das Weib für tief — warum? weil man nie bei ihm auf den
Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.] In NL 1888, KSA 13, 15[118],
477, 23-26 lautet der Spruch ausführlicher: „Man hält das Weib für tief —
warum? Weil man nie bei ihr auf den Grund kommt. Aber das Weib hat gar
keinen Grund: Es ist das Faß der Danaiden. / Das Weib ist noch nicht einmal
flach." (Vgl. Mp XVI 4 u. KGW IX 7, W II 3, 70, 28-34 bzw. KSA 14, 412) Die
Vorlage gibt Goncourt 1887, 1, 325 (10. Mai 1860), wo von Gavarnis Liebschaften
berichtet wird: „Nous lui demandons s'il a jamais compris une femme? ,Une
femme, mais c'est impenetrable, non pas parce que c'est profond, mais parce
 
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