Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 64 253
sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben
ein Irrthum." (Ebd., S. 279 f., Z. 55-57) Mit dem Personalpronomen im Dativ
wird die Äußerung relativiert und kontextualisiert: Für N. als Briefschreiber
wäre das Leben ein Irrtum, weil er eben noch zu sehr Romantiker ist, um der
Musik entsagen zu können. Die Entpersonalisierung von 64, 15 (ebenso NL
1888, KSA 13, 15[118], 478, 7 und 16[24], 488) suggeriert, Leben ohne Musik sei
generell ein Irrtum. Das wird — häufig auch statt mit dem Irrealis „wäre" mit
dem Indikativ „ist" — in populärem Kontext gerne zustimmend zitiert. Dabei
wird meist die schillernde Ironie von GD Sprüche und Pfeile 33 ausgeblendet.
Als Inspirationsquelle für 64, 15 kommt Bain 1880, 100 f. (von N. mit Esels-
ohr markiert) in Frage: „Von allen schönen Künsten ist die Musik die allge-
meinste, einflussreichste und verwendbarste. Sie stellt vielleicht dasjenige
menschliche Vergnügen dar, gegen /101/ das sich am wenigsten Einwendungen
erheben lassen und das gleichzeitig das billigste ist. Zu allen Zeiten ist es von
den Menschen begierig ergriffen worden, so sehr, dass man sich wundern
kann, wie jemals das Leben ohne Musik bestehen konnte."
64, 15 f. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.] Vgl. Ernst Moritz
Arndt: Des Deutschen Vaterland (1813): „Was ist des Deutschen Vaterland? / So
nenne mir das große Land! / Gewiß ist das Österreich, / An Ehren und an
Siegen reich? / 0 nein! nein! nein! / Sein Vaterland muß größer sein. // Was
ist des Deutschen Vaterland? / So nenne mir das große Land! / So weit die
deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es sein! /
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!" (Arndt o. J., 127) Scheinbar dient diese
Arndt-Anspielung als Beweis für den vorangegangenen Satz 64, 15, untermi-
niert aber zugleich seinen scheinbar apodiktischen Anspruch. Denn wie sich
die Deutschen ihren Gott vorstellen — vgl. GD Was den Deutschen abgeht —,
kann aus N.s Perspektive keineswegs als Wahrheitsbeweis einer lebensphiloso-
phischen Allaussage dienen. N. wird vielmehr bei seinen Lesern, die wie Köse-
litz in seinem Brief vom 20. 09. 1888 sofort das Arndt-Gedicht assoziieren (KGB
III 6, Nr. 581, S. 309), das Wissen um dessen Fortgang voraussetzen können:
„Das ist des Deutschen Vaterland, / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / Wo
jeder Franzmann heißet Feind" (Arndt o. J., 127). Das derlei dem bekennenden
Franzosenfreund N. zutiefst zuwider gewesen sein muss, liegt auf der Hand.
Köselitz sieht sich mit einem grammatikalischen Problem konfrontiert:
„Ich glaube, dass das ,Gott' in / soweit die deutsche Zunge klingt / und Gott
im Himmel Lieder singt / doch ein Dativ und kein Nominativ ist." (KGB III 6,
Nr. 581, S. 309) N. antwortet am 27. 09. 1888: „Alter Freund, Sie sind noch gar
nicht auf meiner Höhe mit Ihrer Auseinandersetzung über Dativ und Nominativ
beim Gottesbegriff. Der Nominativ ist ja der Witz der Stelle, ihr zureichender
Grund zum Dasein..." (KSB 8, Nr. 1122, S. 443 f., Z. 42-45) Der Nachbericht in
sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben
ein Irrthum." (Ebd., S. 279 f., Z. 55-57) Mit dem Personalpronomen im Dativ
wird die Äußerung relativiert und kontextualisiert: Für N. als Briefschreiber
wäre das Leben ein Irrtum, weil er eben noch zu sehr Romantiker ist, um der
Musik entsagen zu können. Die Entpersonalisierung von 64, 15 (ebenso NL
1888, KSA 13, 15[118], 478, 7 und 16[24], 488) suggeriert, Leben ohne Musik sei
generell ein Irrtum. Das wird — häufig auch statt mit dem Irrealis „wäre" mit
dem Indikativ „ist" — in populärem Kontext gerne zustimmend zitiert. Dabei
wird meist die schillernde Ironie von GD Sprüche und Pfeile 33 ausgeblendet.
Als Inspirationsquelle für 64, 15 kommt Bain 1880, 100 f. (von N. mit Esels-
ohr markiert) in Frage: „Von allen schönen Künsten ist die Musik die allge-
meinste, einflussreichste und verwendbarste. Sie stellt vielleicht dasjenige
menschliche Vergnügen dar, gegen /101/ das sich am wenigsten Einwendungen
erheben lassen und das gleichzeitig das billigste ist. Zu allen Zeiten ist es von
den Menschen begierig ergriffen worden, so sehr, dass man sich wundern
kann, wie jemals das Leben ohne Musik bestehen konnte."
64, 15 f. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.] Vgl. Ernst Moritz
Arndt: Des Deutschen Vaterland (1813): „Was ist des Deutschen Vaterland? / So
nenne mir das große Land! / Gewiß ist das Österreich, / An Ehren und an
Siegen reich? / 0 nein! nein! nein! / Sein Vaterland muß größer sein. // Was
ist des Deutschen Vaterland? / So nenne mir das große Land! / So weit die
deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es sein! /
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!" (Arndt o. J., 127) Scheinbar dient diese
Arndt-Anspielung als Beweis für den vorangegangenen Satz 64, 15, untermi-
niert aber zugleich seinen scheinbar apodiktischen Anspruch. Denn wie sich
die Deutschen ihren Gott vorstellen — vgl. GD Was den Deutschen abgeht —,
kann aus N.s Perspektive keineswegs als Wahrheitsbeweis einer lebensphiloso-
phischen Allaussage dienen. N. wird vielmehr bei seinen Lesern, die wie Köse-
litz in seinem Brief vom 20. 09. 1888 sofort das Arndt-Gedicht assoziieren (KGB
III 6, Nr. 581, S. 309), das Wissen um dessen Fortgang voraussetzen können:
„Das ist des Deutschen Vaterland, / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / Wo
jeder Franzmann heißet Feind" (Arndt o. J., 127). Das derlei dem bekennenden
Franzosenfreund N. zutiefst zuwider gewesen sein muss, liegt auf der Hand.
Köselitz sieht sich mit einem grammatikalischen Problem konfrontiert:
„Ich glaube, dass das ,Gott' in / soweit die deutsche Zunge klingt / und Gott
im Himmel Lieder singt / doch ein Dativ und kein Nominativ ist." (KGB III 6,
Nr. 581, S. 309) N. antwortet am 27. 09. 1888: „Alter Freund, Sie sind noch gar
nicht auf meiner Höhe mit Ihrer Auseinandersetzung über Dativ und Nominativ
beim Gottesbegriff. Der Nominativ ist ja der Witz der Stelle, ihr zureichender
Grund zum Dasein..." (KSB 8, Nr. 1122, S. 443 f., Z. 42-45) Der Nachbericht in