Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 66-67 261
W II 5, 106, 62, wo es u. a. heißt: „Sokrates ist ein Moment der tiefsten
Perversität in der Geschichte der Menschen" — KSA 13, 289, 16 f.). In NL
1888, KSA 13, 15[5], 403 wird im Rahmen dieser Philosophie-als-Dekadenz-Kri-
tik der Bezug zu späteren Kapiteln von GD hergestellt. Das Rohmaterial des
Kapitels „Das Problem des Socrates" trägt NL 1888, KSA 13, 14[92], 268-
270 (KGW IX 8, W II 5, 131) zusammen.
Von GD Das Problem des Sokrates machte sich der junge Robert Musil
im Tagebuch Exzerpte, um mit N. zum Schluss zu kommen, die „einseitige
Überschätzung der Vernunft" sei ein „Decadencesymptom" (Musil 1976, 1, 32,
vgl. Neymeyr 2009).
Das Verhältnis von N. und Sokrates ist in der Forschung häufig behandelt
worden, exemplarisch bei Müller 2005, 188-220, Gerhardt 2001 (auch in Ger-
hardt 2011, 281-304), Kaufmann 1996 (dazu Jovanovski 1991), Dannhauser 1974
u. Schmidt 1969, ferner Nehamas 1998, 128-156 u. Wollek 2004.
67, 1 Das Problem des Sokrates.] In Mp XVI 4 lautet der Titel: „Sokrates als
Problem" (KSA 14, 413). Die in N.s Nachlass erstmals 1888, KSA 13, 14[92], 268 f.
(KGW IX 8, W II 5, 131) auftretende Formel „Das Problem des Sokrates" konnte
N. bei Caspari 1877, 1, XI (NPB 168) finden, der dieses Problem als dasjenige der
Selbsterkenntnis identifiziert: ,„Es ist nicht eitle Neugierde, die den Menschen
unserer Tage nach seinem Ursprunge forschen läßt. Er hat begriffen,
daß er sich heute nur erkennen kann, wenn er sich kennt, wie er gewesen
ist.'" (Ebd., Zitat von Edgar Quinet). Es handelt sich also um das Problem, das
Sokrates hat, nicht um ein Problem, das er selbst ist: „Das Problem des Sokra-
tes war unlöslich, solange sich die Forschung auf die Gegenwart beschränkte,
aber die neue Wissenschaft hat damit begonnen, die Vergangenheit zu befra-
gen." (Ebd.) Die Identifikation des Problems des Sokrates als Selbsterkenntnis-
problem klingt auch in NL 1888, KSA 13, 14[92], 269, 26 f. (KGW IX 8, W II 5,
131, 27-29) an: „Idiosynkrasie, sich selbst als Problem (zu) fühlen". Casparis
eigene Vergangenheitsbefragung verbindet Historie mit Psychologie, Ethnolo-
gie, Linguistik, Anthropologie und Biologie (zu N.s Lektüren von Casparis Arti-
keln in der Zeitschrift Das Ausland siehe Treiber 1996, 403-411).
1
67, 7-9 Selbst Sokrates sagte, als er starb: „leben — das heisst lange krank
sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte
es satt.] Vgl. NK 73, 17 und FW 340, KSA 3, 569, 15-30: „Ich bewundere die
Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte — und nicht
W II 5, 106, 62, wo es u. a. heißt: „Sokrates ist ein Moment der tiefsten
Perversität in der Geschichte der Menschen" — KSA 13, 289, 16 f.). In NL
1888, KSA 13, 15[5], 403 wird im Rahmen dieser Philosophie-als-Dekadenz-Kri-
tik der Bezug zu späteren Kapiteln von GD hergestellt. Das Rohmaterial des
Kapitels „Das Problem des Socrates" trägt NL 1888, KSA 13, 14[92], 268-
270 (KGW IX 8, W II 5, 131) zusammen.
Von GD Das Problem des Sokrates machte sich der junge Robert Musil
im Tagebuch Exzerpte, um mit N. zum Schluss zu kommen, die „einseitige
Überschätzung der Vernunft" sei ein „Decadencesymptom" (Musil 1976, 1, 32,
vgl. Neymeyr 2009).
Das Verhältnis von N. und Sokrates ist in der Forschung häufig behandelt
worden, exemplarisch bei Müller 2005, 188-220, Gerhardt 2001 (auch in Ger-
hardt 2011, 281-304), Kaufmann 1996 (dazu Jovanovski 1991), Dannhauser 1974
u. Schmidt 1969, ferner Nehamas 1998, 128-156 u. Wollek 2004.
67, 1 Das Problem des Sokrates.] In Mp XVI 4 lautet der Titel: „Sokrates als
Problem" (KSA 14, 413). Die in N.s Nachlass erstmals 1888, KSA 13, 14[92], 268 f.
(KGW IX 8, W II 5, 131) auftretende Formel „Das Problem des Sokrates" konnte
N. bei Caspari 1877, 1, XI (NPB 168) finden, der dieses Problem als dasjenige der
Selbsterkenntnis identifiziert: ,„Es ist nicht eitle Neugierde, die den Menschen
unserer Tage nach seinem Ursprunge forschen läßt. Er hat begriffen,
daß er sich heute nur erkennen kann, wenn er sich kennt, wie er gewesen
ist.'" (Ebd., Zitat von Edgar Quinet). Es handelt sich also um das Problem, das
Sokrates hat, nicht um ein Problem, das er selbst ist: „Das Problem des Sokra-
tes war unlöslich, solange sich die Forschung auf die Gegenwart beschränkte,
aber die neue Wissenschaft hat damit begonnen, die Vergangenheit zu befra-
gen." (Ebd.) Die Identifikation des Problems des Sokrates als Selbsterkenntnis-
problem klingt auch in NL 1888, KSA 13, 14[92], 269, 26 f. (KGW IX 8, W II 5,
131, 27-29) an: „Idiosynkrasie, sich selbst als Problem (zu) fühlen". Casparis
eigene Vergangenheitsbefragung verbindet Historie mit Psychologie, Ethnolo-
gie, Linguistik, Anthropologie und Biologie (zu N.s Lektüren von Casparis Arti-
keln in der Zeitschrift Das Ausland siehe Treiber 1996, 403-411).
1
67, 7-9 Selbst Sokrates sagte, als er starb: „leben — das heisst lange krank
sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte
es satt.] Vgl. NK 73, 17 und FW 340, KSA 3, 569, 15-30: „Ich bewundere die
Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte — und nicht