Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0295
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
276 Götzen-Dämmerung

Vor Sokrates lehnte man die dialektischen Manieren ab, man glaubte, daß sie
bloßstellten. Wozu beweisen? Wozu alle Etalage von Gründen? Gegen andere
hat man die Autorität; die Autorität befiehlt. Unter sich(,) inter pares hat man
[...] das gute Herkommen. Man fand gar keinen Platz für Dialektik. Zuletzt
mißtraute (man) solchen offen präsentierten Gründen. Alle guten Dinge haben
ihre Gründe nicht in der Hand. Was sich beweisen läßt, ist wenig werth. Dia-
lektik ist nicht einmal anständig. Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie
wenig überzeugt, weiß die Klugheit aller Redner. Nichts ist leichter als einen
Dialektiker-Effekt auszuwischen. Dialektik kann nur eine Nothwehr sein:
man muß in der Noth sein, um sich sein Recht zu erzwingen [...]: eher
macht man keinen Gebrauch von ihr... Der Jude [...] war deshalb Dialektiker;
und Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand: man
siegt, indem man wüthend und hülflos macht [...]. Man überläßt seinem Opfer
den Nachweis, kein Idiot zu sein. Die Ironie des Dialektikers ist die Ferocität
des Unterdrückten..."
Eine weitere, der endgültigen Version der GD am nächsten stehende Fas-
sung findet sich in KGW IX 8, W II 5, 109 (hier ohne durchgestrichene Passagen
wiedergegeben): „Philosophie als decadence [sic] / Sokrates / Dieser
Umschlag des Geschmacks zu Gunsten der Dialektik ist ein großes Fragezei-
chen. Was geschah eigentlich? - Sokrates, der Roturier, der ihn durchsetzte,
kam mit ihr über einen vornehmen Geschmack, den Geschmack der Vor-
nehmen, zum Sieg: - der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates
lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab; man
glaubte, daß sie bloßstellten; man warnte die Jugend vor ihnen. Wozu die Eta-
lage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen Andere hatte man die
Autorität. [...] Man befahl: das genügte. Unter sich, inter pares hat man das
Herkommen, auch eine Autorität: und zu guterletzt, man ,verstand sich'! Man
fand gar keinen Platz für Dialektik. - Auch mißtraute man solchem offenen
Präsentieren seiner Argumente. Alle honetten Dinge haben ihre Gründe nicht
so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges daran, fünf Finger zu zeigen. -
Was sich beweisen läßt, ist wenig werth... - Daß Dialektik Mißtrauen erregt,
daß sie wenig überredet, daß weiß übrigens der Instinkt der Redner aller Par-
teien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik
kann nur eine Nothwehr sein. Man muß in der Noth sein, man muß sein
Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die
Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke [sic] Fuchs war es; Sokrates war
es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand(.) Man kann mit ihm
tyrannisieren. Man stellt bloß indem man siegt: Man überläßt seinem Opfer
den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wüthend und hülflos während
man selber kalte triumphierende Vernünftigkeit bleibt - man depotenziert
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften