284 Götzen-Dämmerung
wiesen bei Loukidelis 2006a, 302 f.). Auch eine Anspielung auf Eduard von
Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869) liegt in 72, 19 f. nahe (Large
1998, 89).
11
72, 22 f. er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein.) Vgl. NK 73, 16 f. Platon ver-
steht den Philosophen als eine Art Arzt, dessen Aufgabe die Therapie der Seele
ist (Oepaneveiv Tqv ipvxf[v; Kratylos 440c, vgl. Gorgias 513d u. Charmides 155b).
In hellenistischer und römischer Zeit wird die Vorstellung von der therapeu-
tisch-seelenmedizinischen Aufgabe der Philosophie dann dominant (vgl. z. B.
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales V 50, 9).
73, 1-3 die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war
ein Missverständniss...] Vgl. dazu ausführlich GD Die „Verbesserer der
Menschheit", KSA 6, 98-102.
73, 7-10 Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für deca-
dence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt.] Bislang war in
GD Das Problem des Sokrates die decadence des Sokrates und die decadence
Athens als „Anarchie der Instinkte" beschrieben worden. Die sokratische
Lösung bestand darin, sie unter das Joch der Vernunft zu zwingen, wodurch
nach 72, 27-30 freilich die decadence nur in veränderter Gestalt wiederkehre.
Die Instinkte kamen bislang vorwiegend im Plural vor; erst in 73, 9 f. wird
der Singular prominent, mit einer selbst bei N. ziemlich singulären Gleichung,
nämlich zwischen Glück und Instinkt. Dabei bleibt die Frage nach dem Verhält-
nis von Instinkt-Singular und -Plural unerörtert. Die Gleichsetzung von Instinkt
und Glück, die im aufsteigenden Leben herrsche, ist offensichtlich eine hyper-
bolische Formel gegen die sokratische Gleichsetzung von Vernunft, Tugend
und Glück, vgl. NK 69, 19-21 und die in NK 69, 21 f. mitgeteilte Gleichsetzung
von „Tugend = Instinkt = Grund-Unbewußtheit" als „ältere Gleichung" vor
Sokrates (Mp XVI 4 nach KSA 14, 413 f.). Zu N.s Instinktbegriff siehe NK 90, 3-
8.
In 73, 9 wird auch eine neue Unterscheidung explizit gemacht, nämlich
diejenige zwischen einem absteigenden und einem aufsteigenden Leben. N.
fasst damit die Metapher von Aufstieg und Abstieg im Gegensinn zum Ende
von GD Das Problem des Sokrates 10, wo von den sokratisch Inspirierten
gerade das Hinabsteigen zum Unbewussten als Gefahr für den vernünftigen
Lebenswandel angesehen worden war (72, 19 f.).
wiesen bei Loukidelis 2006a, 302 f.). Auch eine Anspielung auf Eduard von
Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869) liegt in 72, 19 f. nahe (Large
1998, 89).
11
72, 22 f. er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein.) Vgl. NK 73, 16 f. Platon ver-
steht den Philosophen als eine Art Arzt, dessen Aufgabe die Therapie der Seele
ist (Oepaneveiv Tqv ipvxf[v; Kratylos 440c, vgl. Gorgias 513d u. Charmides 155b).
In hellenistischer und römischer Zeit wird die Vorstellung von der therapeu-
tisch-seelenmedizinischen Aufgabe der Philosophie dann dominant (vgl. z. B.
Seneca: Ad Lucilium epistulae morales V 50, 9).
73, 1-3 die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war
ein Missverständniss...] Vgl. dazu ausführlich GD Die „Verbesserer der
Menschheit", KSA 6, 98-102.
73, 7-10 Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für deca-
dence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt.] Bislang war in
GD Das Problem des Sokrates die decadence des Sokrates und die decadence
Athens als „Anarchie der Instinkte" beschrieben worden. Die sokratische
Lösung bestand darin, sie unter das Joch der Vernunft zu zwingen, wodurch
nach 72, 27-30 freilich die decadence nur in veränderter Gestalt wiederkehre.
Die Instinkte kamen bislang vorwiegend im Plural vor; erst in 73, 9 f. wird
der Singular prominent, mit einer selbst bei N. ziemlich singulären Gleichung,
nämlich zwischen Glück und Instinkt. Dabei bleibt die Frage nach dem Verhält-
nis von Instinkt-Singular und -Plural unerörtert. Die Gleichsetzung von Instinkt
und Glück, die im aufsteigenden Leben herrsche, ist offensichtlich eine hyper-
bolische Formel gegen die sokratische Gleichsetzung von Vernunft, Tugend
und Glück, vgl. NK 69, 19-21 und die in NK 69, 21 f. mitgeteilte Gleichsetzung
von „Tugend = Instinkt = Grund-Unbewußtheit" als „ältere Gleichung" vor
Sokrates (Mp XVI 4 nach KSA 14, 413 f.). Zu N.s Instinktbegriff siehe NK 90, 3-
8.
In 73, 9 wird auch eine neue Unterscheidung explizit gemacht, nämlich
diejenige zwischen einem absteigenden und einem aufsteigenden Leben. N.
fasst damit die Metapher von Aufstieg und Abstieg im Gegensinn zum Ende
von GD Das Problem des Sokrates 10, wo von den sokratisch Inspirierten
gerade das Hinabsteigen zum Unbewussten als Gefahr für den vernünftigen
Lebenswandel angesehen worden war (72, 19 f.).