286 Götzen-Dämmerung
6 f.) und so die Welt mumifiziere. Die definitive Plazierung des Kapitels nach
GD Das Problem des Sokrates ergibt sich für die Leser als eine logische Folge:
Wurde dort geschildert, wie Sokrates die Vernunft gegen die übermächtigen
Triebe zum Tyrannen gemacht hat, wird jetzt die historische Entwicklung der
Philosophie als Verfallsprozess dargestellt.
Die „Vernunft", die im Titel des Kapitels in Anführungszeichen erscheint,
ist nichts, was es an sich gibt und von dem N. damit in herkömmlicher philoso-
phischer Manier eine Definition geben könnte. „Vernunft" gilt als jenes Mittel
der Philosophen, mit dem sie die Welt des Werdens in Begriffen einfrieren
(Abschnitt 1) und mit dem sie die Fiktion der Begriffe zur (einzigen) Wirklich-
keit erklären (Abschnitt 4). N. nimmt in diesem Abschnitt für sich also keine
,andere', beispielsweise durch Sinnlichkeit ergänzte „Vernunft" in Anspruch,
sondern degradiert „Vernunft" durch die distanzierenden Anführungszeichen
zum bloßen Phantom, mit dem die Philosophen die Menschen bisher immerzu
angeführt, zugleich irre- und an der Nase (vgl. GD Die „Vernunft" in der Philo-
sophie 3, KSA 6, 75, 27-30!) herumgeführt haben. Bisher waren wir alle Ange-
führte der „Vernunft" — ein Zustand, den N. zu untergraben sich anschickt.
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74, 3 Sie fragen mich] Durch die Ansprache des Lesers der 2. Person Plural
suggeriert N. einen Dialog, den er im folgenden freilich nicht fortführt. Das
„Sie" in 75, 5 bezieht sich auf die Philosophen und steht in der 3. Person Plural.
74, 3 Idiosynkrasie bei den Philosophen] Zum Begriff der Idiosynkrasie vgl.
z. B. Meyer 1885-1892, 8, 875 f.: „Idiosynkrasie (griech.), ursprünglich die
,eigentümliche Mischung' der Säfte des Körpers, aus welcher sich, der Ansicht
der alten Ärzte zufolge, das verschiedene Verhalten der einzelnen Individuen
im gesunden wie im kranken Zustand erklären sollte. Gegenwärtig versteht
man unter I. die eigentümliche Abneigung oder allgemein das eigentümliche
Verhalten, welches manche Personen gegen Eindrücke zeigen, welche der gro-
ßen Mehrheit der Menschen nicht ähnliche Empfindungen oder Reaktionen
erregen. So gibt es Menschen, welche in ganz abweichender Weise sich gegen
bestimmte Speisen, Gerüche, Arzneien etc. verhalten. [...] Die Ursache der
sogen. Idiosynkrasien ist unbekannt; jedenfalls liegt sie nicht in einer abwei-
chenden Mischung der Säfte, sondern wohl eher im Nervensystem und zwar
in einer nach gewissen Richtungen hin abnorm gesteigerten Empfindlichkeit
desselben. [...] /876/ [...] In der Regel sind die Idiosynkrasien angeboren; doch
können sie auch, besonders infolge erschöpfender Krankheiten, erworben wer-
6 f.) und so die Welt mumifiziere. Die definitive Plazierung des Kapitels nach
GD Das Problem des Sokrates ergibt sich für die Leser als eine logische Folge:
Wurde dort geschildert, wie Sokrates die Vernunft gegen die übermächtigen
Triebe zum Tyrannen gemacht hat, wird jetzt die historische Entwicklung der
Philosophie als Verfallsprozess dargestellt.
Die „Vernunft", die im Titel des Kapitels in Anführungszeichen erscheint,
ist nichts, was es an sich gibt und von dem N. damit in herkömmlicher philoso-
phischer Manier eine Definition geben könnte. „Vernunft" gilt als jenes Mittel
der Philosophen, mit dem sie die Welt des Werdens in Begriffen einfrieren
(Abschnitt 1) und mit dem sie die Fiktion der Begriffe zur (einzigen) Wirklich-
keit erklären (Abschnitt 4). N. nimmt in diesem Abschnitt für sich also keine
,andere', beispielsweise durch Sinnlichkeit ergänzte „Vernunft" in Anspruch,
sondern degradiert „Vernunft" durch die distanzierenden Anführungszeichen
zum bloßen Phantom, mit dem die Philosophen die Menschen bisher immerzu
angeführt, zugleich irre- und an der Nase (vgl. GD Die „Vernunft" in der Philo-
sophie 3, KSA 6, 75, 27-30!) herumgeführt haben. Bisher waren wir alle Ange-
führte der „Vernunft" — ein Zustand, den N. zu untergraben sich anschickt.
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74, 3 Sie fragen mich] Durch die Ansprache des Lesers der 2. Person Plural
suggeriert N. einen Dialog, den er im folgenden freilich nicht fortführt. Das
„Sie" in 75, 5 bezieht sich auf die Philosophen und steht in der 3. Person Plural.
74, 3 Idiosynkrasie bei den Philosophen] Zum Begriff der Idiosynkrasie vgl.
z. B. Meyer 1885-1892, 8, 875 f.: „Idiosynkrasie (griech.), ursprünglich die
,eigentümliche Mischung' der Säfte des Körpers, aus welcher sich, der Ansicht
der alten Ärzte zufolge, das verschiedene Verhalten der einzelnen Individuen
im gesunden wie im kranken Zustand erklären sollte. Gegenwärtig versteht
man unter I. die eigentümliche Abneigung oder allgemein das eigentümliche
Verhalten, welches manche Personen gegen Eindrücke zeigen, welche der gro-
ßen Mehrheit der Menschen nicht ähnliche Empfindungen oder Reaktionen
erregen. So gibt es Menschen, welche in ganz abweichender Weise sich gegen
bestimmte Speisen, Gerüche, Arzneien etc. verhalten. [...] Die Ursache der
sogen. Idiosynkrasien ist unbekannt; jedenfalls liegt sie nicht in einer abwei-
chenden Mischung der Säfte, sondern wohl eher im Nervensystem und zwar
in einer nach gewissen Richtungen hin abnorm gesteigerten Empfindlichkeit
desselben. [...] /876/ [...] In der Regel sind die Idiosynkrasien angeboren; doch
können sie auch, besonders infolge erschöpfender Krankheiten, erworben wer-