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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0313
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294 Götzen-Dämmerung

76, 1-3 Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen
haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen] Ein vergleichbares sensualisti-
sches Bekenntnis, zu dem auch Comtes Positivismus und mit ihm Roberty 1887
tendieren, findet sich z. B. bei Rolph 1884, 1 f.: „Jede Erkenntniss beruht auf
sinnlicher Wahrnehmung, auf Beobachtung; nur diejenigen Vorgänge sind
unserer Erkenntniss direct zugänglich, welche in den Bereich unserer sinnli-
chen Wahrnehmung fallen, oder welche wir durch irgend welche Kunstgriffe
/2/ in diesen Bereich bringen können." Bei Nägeli 1884, 578 f. (vgl. NPB 404,
Lesespuren N.s) heißt es: „Da alle Vorstellungen, welche wir von der Natur
haben, uns durch die sinnliche Wahrnehmung vermittelt werden, so kann auch
unser Erkennen nicht weiter gehen, als dass wir die wahrgenommenen Erschei-
nungen mit einander vergleichen und sie mit Rücksicht auf einander beurthei-
len. [...] /579/ [...] Wir erkennen also eine Erscheinung, wir begreifen ihren
Werth in Beziehung zu den übrigen Erscheinungen, wenn wir sie messen,
zählen, wägen können." Herrmann 1887, 207 (Lesespur N.s, vgl. NPB 292)
macht hingegen die „Oekonomie der Sinne" für „zahlreiche Fehlerquellen
unseres Denkens" verantwortlich.
76, 4-6 Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Meta-
physik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie.] Vgl. NK KSA 6, 35, 18. Dass
Metaphysik und Theologie vorwissenschaftliche Weltbetrachtungen seien, hat
etwa auch Auguste Comtes Positivismus behauptet, den N. in Gestalt von
Robertys L'ancienne et la nouvelle philosophie (1887, z. B. 221-229) intensiv stu-
diert hat (NPB 500 f.), auch wenn er sich von dessen „ganz naiv[en]
Gesetze[n] für eine historisch-nothwendige Entwicklung und Folge der
philosophischen Hauptdifferenzen" distanziert (N. an Paul Deussen, 03. 01.
1888, KSB 8, Nr. 969, S. 222, Z. 58 f.). Dass Psychologie und Erkenntnistheorie
ebenfalls als vorwissenschaftlich qualifiziert werden, mag demgegenüber über-
raschen, zumal sich N. in GD und anderen Schriften gerne als Psychologe zu
erkennen gibt (vgl. NK 58, 2), und Psychologie dabei als eine götzenzerstörende
Instanz erscheint (vgl. NK 59, 3 f.). Der von N. im Spätwerk selten verwendete
Begriff der Erkenntnistheorie (vgl. AC 20, KSA 6, 186, 15 f.) ist schon in JGB
204 negativ konnotiert, und zwar in Gänsefüßchen: als eine Schwundstufe der
Philosophie in der Gegenwart (KSA 5, 131, 32-34, vgl. zur Rezeptionsgeschichte
Rorty 1979, der N.s Kritik an der Erkenntnistheorie systematisch erneuern will).
Schon vor der Roberty-Lektüre hatte sich N. in NL 1885/86, KSA 12, l[60], 26,
1-8 (ungeglättet in KGW IX 2, N VII 2, 143, 28-40) notiert: „Es ist beinahe
komisch, daß unsere Philosophen verlangen, die Philosophie müsse mit einer
Kritik des Erkenntnißvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich,
daß das Organ der Erkenntniß sich selber ,kritisiren' kann, wenn man [...] miß-
trauisch geworden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniß? Die
 
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