Stellenkommentar GD Vernunft, KSA 6, S. 77 299
Dinge — es schafft erst damit den Begriff „Ding"... Das Sein wird überall als
Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception „Ich" folgt
erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein"...] Dieser Passus enthält N.s Fundamental-
kritik an der Sprache, die jede Erkenntnis irreleite, am Ich als sprachlichem
Konstrukt und schließlich an der Deduktion des Seins aus dem Ich. Er greift
damit Überlegungen aus der von ihm selbst nicht publizierten Frühschrift
Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne auf und bietet zugleich
eine Travestie von Descartes' cogito-sum-Argument: Aus dem redenden (statt
denkenden) Ich (das eigentlich nur ein sprachliches Zeichen ist) wird dessen
Sein und daraus schließlich das Sein selbst gefolgert, womit man nach N. nur
Opfer einer sprachlichen Irreleitung geworden sei: Aus der Sprache folge
gerade kein Sein. Sie suggeriert Täter und Tun, wo es womöglich weder das
Eine noch das Andere gibt. N. argumentiert hier implizit auch gegen Gustav
Teichmüller und die Vorstellung, dass das Subjekt eine unmittelbare Erfahrung
von sich selbst besitze und Objekterkenntnis nur durch die Übertragung des
als Substanz begriffenen Subjekts auf ein außerhalb gelegenes Objekt gewin-
nen könne (ausführlich dazu auf dem Hintergrund einer minutiösen Interpreta-
tion von JGB 17 Loukidelis 2009).
Die Kritik an der Hypostasierung des Ichs zu einer eigenen Wesenheit jen-
seits der Grammatik und der Erkenntnistheorie konnte N. beispielsweise in
Schopenhauers Parerga und Paralipomena (II, § 28) vorformuliert finden: „Eine
von Fichte eingeführte und seitdem habilitirte Erschleichung liegt im Aus-
druck das Ich. Hier wird nämlich, durch die substantive Redeform und den
vorgesetzten Artikel, das wesentlich und schlechthin Subjektive zum Objekt
umgewandelt. Denn in Wahrheit bezeichnet Ich das Subjektive als solches,
welches daher gar nie Objekt werden kann, nämlich das Erkennende im Gegen-
satz und als Bedingung alles Erkannten. Dies hat die Weisheit aller Sprachen
dadurch ausgedrückt, daß sie Ich nicht als Substantiv behandelt: daher eben
Fichte der Sprache Gewalt anthun mußte, um seine Absicht durchzusetzen."
(Schopenhauer 1873-1874, 6, 40) Schopenhauer freilich behielt das transzen-
dentale Subjekt Kantischer Prägung, das wiederum bei N. gleichfalls zur Dispo-
sition steht. Vgl. zum Begriff des Ichs NK 91, 7-9.
77, 17 grobes Fetischwesen] Fetischismus wird in den religionswissenschaftli-
chen Diskussionen der Zeit eifrig diskutiert, vgl. z. B. Caspari 1877, 94-156,
Roberty 1887, 259 oder Guyau 1887, 3: „Les esprits positifs, au contraire, n'aper-
goivent, avec Auguste Comte, ä l'origine des religions que les croyances gros-
sieres du fetichisme." („Die positiven Geister erkennen mit Auguste Comte am
Ursprung der Religionen nur die plumpen Glaubensüberzeugungen des Feti-
schismus." Vgl. ebd., 31, wo Guyau den Begriff des Fetischismus problemati-
siert.) Meyer 1885-1892, 6, 195 fasst zusammen: „Fetischismus, Verehrung eines
Dinge — es schafft erst damit den Begriff „Ding"... Das Sein wird überall als
Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception „Ich" folgt
erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein"...] Dieser Passus enthält N.s Fundamental-
kritik an der Sprache, die jede Erkenntnis irreleite, am Ich als sprachlichem
Konstrukt und schließlich an der Deduktion des Seins aus dem Ich. Er greift
damit Überlegungen aus der von ihm selbst nicht publizierten Frühschrift
Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne auf und bietet zugleich
eine Travestie von Descartes' cogito-sum-Argument: Aus dem redenden (statt
denkenden) Ich (das eigentlich nur ein sprachliches Zeichen ist) wird dessen
Sein und daraus schließlich das Sein selbst gefolgert, womit man nach N. nur
Opfer einer sprachlichen Irreleitung geworden sei: Aus der Sprache folge
gerade kein Sein. Sie suggeriert Täter und Tun, wo es womöglich weder das
Eine noch das Andere gibt. N. argumentiert hier implizit auch gegen Gustav
Teichmüller und die Vorstellung, dass das Subjekt eine unmittelbare Erfahrung
von sich selbst besitze und Objekterkenntnis nur durch die Übertragung des
als Substanz begriffenen Subjekts auf ein außerhalb gelegenes Objekt gewin-
nen könne (ausführlich dazu auf dem Hintergrund einer minutiösen Interpreta-
tion von JGB 17 Loukidelis 2009).
Die Kritik an der Hypostasierung des Ichs zu einer eigenen Wesenheit jen-
seits der Grammatik und der Erkenntnistheorie konnte N. beispielsweise in
Schopenhauers Parerga und Paralipomena (II, § 28) vorformuliert finden: „Eine
von Fichte eingeführte und seitdem habilitirte Erschleichung liegt im Aus-
druck das Ich. Hier wird nämlich, durch die substantive Redeform und den
vorgesetzten Artikel, das wesentlich und schlechthin Subjektive zum Objekt
umgewandelt. Denn in Wahrheit bezeichnet Ich das Subjektive als solches,
welches daher gar nie Objekt werden kann, nämlich das Erkennende im Gegen-
satz und als Bedingung alles Erkannten. Dies hat die Weisheit aller Sprachen
dadurch ausgedrückt, daß sie Ich nicht als Substantiv behandelt: daher eben
Fichte der Sprache Gewalt anthun mußte, um seine Absicht durchzusetzen."
(Schopenhauer 1873-1874, 6, 40) Schopenhauer freilich behielt das transzen-
dentale Subjekt Kantischer Prägung, das wiederum bei N. gleichfalls zur Dispo-
sition steht. Vgl. zum Begriff des Ichs NK 91, 7-9.
77, 17 grobes Fetischwesen] Fetischismus wird in den religionswissenschaftli-
chen Diskussionen der Zeit eifrig diskutiert, vgl. z. B. Caspari 1877, 94-156,
Roberty 1887, 259 oder Guyau 1887, 3: „Les esprits positifs, au contraire, n'aper-
goivent, avec Auguste Comte, ä l'origine des religions que les croyances gros-
sieres du fetichisme." („Die positiven Geister erkennen mit Auguste Comte am
Ursprung der Religionen nur die plumpen Glaubensüberzeugungen des Feti-
schismus." Vgl. ebd., 31, wo Guyau den Begriff des Fetischismus problemati-
siert.) Meyer 1885-1892, 6, 195 fasst zusammen: „Fetischismus, Verehrung eines