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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0321
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302 Götzen-Dämmerung

78, 11-13 Die „Vernunft" in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische
Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Gram-
matik glauben...] Vgl. JGB Vorrede (KSA 5, 11 f.) und JGB 34: „Warum dürfte die
Welt, die uns etwas angeht —, nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt:
,aber zur Fiktion gehört ein Urheber?' — dürfte dem nicht rund geantwortet
werden: Warum? Gehört dieses ,Gehört' nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist
es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachge-
rade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die
Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gouvernanten:
aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glau-
ben absagte?" (KSA 5, 54, 2-11) Diese Stelle wiederum ist direkt inspiriert von
Dühring 1865, 170 f. — vgl. den Nachweis bei Riccardi 2006, 299 —; sie geht
auf N.s Dühring-Lektüre von 1875 zurück (NL 1875, KSA 8, 9[1], 171 f.). Zur Vor-
geschichte von 78, 11-13 in früheren Werken N.s vgl. Magnus 1988, 159-162,
zum philosophischen Traditionshintergrund Simon 1972, 11 u. ö., zu den weite-
ren Lektürequellen Loukidelis 2009, 47-49, zu den Folgerungen, die sich für
Theologie ergeben Striet 1998. Wenig ergiebig ist Schlechta 1972.

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78, 23-26 man hat die „wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt
aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine mora-
lisch-optische Täuschung ist] Vgl. NK 81, 8-11.
78, 27-32 Von einer „andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn,
vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächti-
gung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben
mit der Phantasmagorie eines „anderen", eines „besseren" Lebens.] Während die
Abschnitte 1 bis 5 dieses Kapitels die Struktur und das Zustandekommen des
Irrtums einer wahren Welt und der Vernunft als ihrer Garantin erläutert haben
und die dahinterstehenden Beweggründe weitgehend ausklammern, wird hier
ein markantes Interesse hinter dieser Erfindung einer wahren, vernünftigen,
anderen Welt dingfest gemacht, nämlich das Ressentiment gegen das Leben,
dessen Verneinung aus Frustration. Diese Erklärung fügt das ganze Kapitel
„Die ,Vernunft' in der Philosophie" in den Rahmen der Dekadenz- und Nihilis-
muskritik ein, die ein leitendes Thema von GD insgesamt darstellt. Die Motiva-
tion der Philosophen erweise sich generell als eine lebensfeindliche, ja lebens-
gefährliche (74, 12). Zu dieser Erklärung steht Abschnitt 5 (77, 12-78, 13) in
einer gewissen Spannung, wo die Entstehung des Irrtums einer wahren Welt
 
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