304 Götzen-Dämmerung
Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Schein nimmt ein Motiv aus
GT wieder auf; N. ist ihm beispielsweise bei der Lektüre von Hehn 1888, 195
erneut begegnet: „die Kunst ist der Zeit nicht unterthan, da sie sich am Scheine
genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt sich das Flüchtigste, die Liebe
und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als ein ewig Bleibendes dar". N.
kommt auf die Frage des Künstlers in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 8-
11 wiederholt zurück, unterlässt dort aber eine einseitige Festschreibung des
tragischen Künstlers als „dionysisch" — der tragische Künstler fehlt dort ganz!
N. findet dort stattdessen im Architekten sogar eine Künstlerschaft jenseits des
Apollinischen und Dionysischen verwirklicht, vgl. NK 118, 24-28. Den tragi-
schen Künstler versteht N. in 79, 5-10 als ganz und gar dionysisch, nicht länger
wie in GT als dionysisch-apollinisch. Vgl. auch NK 127, 31-128, 7.
Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde. Geschichte
eines Irrthums
Nach einem Plan vom Frühjahr 1888 hätte ein Abschnitt „die wahre und die
scheinbare Welt" zum ersten Kapitel des „Willens zur Macht" werden sollen
(NL 1888, KSA 13, 14[156], 340, 5, vgl. KGW IX 8, W II 5, 55, 10); „die Vorstufe
dieses Abschnittes der Götzen-Dämmerung ist tatsächlich im Manuskript ,Ers-
tes Kapitel' überschrieben" (Montinari 1984, 73).
Dieses Kapitel — nach Montinari 1984, 73 eine „philosophische Parabel" —
hat poststrukturalistische Diskussionen über Hyperrealität namentlich bei Jean
Baudrillard inspiriert (Allison 1999, 179). Heidegger 1989, 1, 235 hat es gelesen
als „kurze Darstellung des Platonismus und seiner Überwindung". Abel 1998,
336 stellt es als „umgekehrte Genealogie" dar, die „vom äußersten Punkt einer
vom realen Dasein entfernten metaphysischen Welt bis zur Wiedergewinnung
des ursprünglichen Grundcharakters der für den Menschen einzigen Welt und
Wirklichkeit" verlaufe. Es handle sich um einen „nach Graden fortschreitenden
Selbstzerfall, [um] die notwendige Selbstüberwindung und Entwertung" der
metaphysischen Welt. Am Ende steht nach Abel die Erkenntnis des ewigen
Flusses aller Dinge, der von N. „als das fortwährende Mit- und Gegeneinander-
Wirken, als das Zusammen- und Wieder-auseinander-treten der Willen-zur-
Macht-und-Interpretations-Komplexe" verstanden werde (ebd., 340).
Abels einflussreiche Interpretation dieses häufig als Herzstück von GD cha-
rakterisierten Kapitels dokumentiert, wie stark die Interpreten dazu tendieren,
über den offenkundig einen Abschluss markierenden Absatz 6 (81, 8-14)
hinaus eine positive Ontologie, beispielsweise auch die vorgebliche Lehre von
der Ewigen Wiederkunft in den Text hineinzulesen. Dessen Pointe besteht aber
Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Schein nimmt ein Motiv aus
GT wieder auf; N. ist ihm beispielsweise bei der Lektüre von Hehn 1888, 195
erneut begegnet: „die Kunst ist der Zeit nicht unterthan, da sie sich am Scheine
genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt sich das Flüchtigste, die Liebe
und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als ein ewig Bleibendes dar". N.
kommt auf die Frage des Künstlers in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 8-
11 wiederholt zurück, unterlässt dort aber eine einseitige Festschreibung des
tragischen Künstlers als „dionysisch" — der tragische Künstler fehlt dort ganz!
N. findet dort stattdessen im Architekten sogar eine Künstlerschaft jenseits des
Apollinischen und Dionysischen verwirklicht, vgl. NK 118, 24-28. Den tragi-
schen Künstler versteht N. in 79, 5-10 als ganz und gar dionysisch, nicht länger
wie in GT als dionysisch-apollinisch. Vgl. auch NK 127, 31-128, 7.
Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde. Geschichte
eines Irrthums
Nach einem Plan vom Frühjahr 1888 hätte ein Abschnitt „die wahre und die
scheinbare Welt" zum ersten Kapitel des „Willens zur Macht" werden sollen
(NL 1888, KSA 13, 14[156], 340, 5, vgl. KGW IX 8, W II 5, 55, 10); „die Vorstufe
dieses Abschnittes der Götzen-Dämmerung ist tatsächlich im Manuskript ,Ers-
tes Kapitel' überschrieben" (Montinari 1984, 73).
Dieses Kapitel — nach Montinari 1984, 73 eine „philosophische Parabel" —
hat poststrukturalistische Diskussionen über Hyperrealität namentlich bei Jean
Baudrillard inspiriert (Allison 1999, 179). Heidegger 1989, 1, 235 hat es gelesen
als „kurze Darstellung des Platonismus und seiner Überwindung". Abel 1998,
336 stellt es als „umgekehrte Genealogie" dar, die „vom äußersten Punkt einer
vom realen Dasein entfernten metaphysischen Welt bis zur Wiedergewinnung
des ursprünglichen Grundcharakters der für den Menschen einzigen Welt und
Wirklichkeit" verlaufe. Es handle sich um einen „nach Graden fortschreitenden
Selbstzerfall, [um] die notwendige Selbstüberwindung und Entwertung" der
metaphysischen Welt. Am Ende steht nach Abel die Erkenntnis des ewigen
Flusses aller Dinge, der von N. „als das fortwährende Mit- und Gegeneinander-
Wirken, als das Zusammen- und Wieder-auseinander-treten der Willen-zur-
Macht-und-Interpretations-Komplexe" verstanden werde (ebd., 340).
Abels einflussreiche Interpretation dieses häufig als Herzstück von GD cha-
rakterisierten Kapitels dokumentiert, wie stark die Interpreten dazu tendieren,
über den offenkundig einen Abschluss markierenden Absatz 6 (81, 8-14)
hinaus eine positive Ontologie, beispielsweise auch die vorgebliche Lehre von
der Ewigen Wiederkunft in den Text hineinzulesen. Dessen Pointe besteht aber