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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0324
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Stellenkommentar GD Fabel, KSA 6, S. 79 305

gerade darin, dass er sich über den Charakter einer allfälligen neuen Ontologie
vollständig ausschweigt. In der Schlusspassage verkündet dieser Text mit der
Abschaffung der wahren Welt zugleich die Abschaffung der scheinbaren und
scheint somit den Weltbegriff, Ontologie überhaupt aufzugeben, um gleichsam
einem skeptischen Weltverzicht Platz zu machen, als ob der Begriff der Welt
eine nicht-perspektivische Erkenntnis impliziere, über die niemand verfügt.
Das Kapitel deklariert sich im Untertitel „Geschichte eines Irrthums" (80,
2) als ein Narrativ, das dann die verschiedenen Stationen der Philosophiege-
schichte in eine Abfolge bringt, die schließlich zur Abschaffung sowohl der
„wahren" wie der „scheinbaren Welt" führt. Dieses Narrativ hat eine streng
lineare Verlaufsform — Verfall bis Absatz 3, Aufstieg ab Absatz 4 — und kann
durchaus selbst als „Fabel" gelten, jedenfalls dann, wenn man die zeitgenössi-
sche Definition der Fabel zugrunde legt, vgl. Meyer 1885-1892, 5, 989 f.: „im
weitern Sinn das Süjet jeder Dichtung, z. B. eines Dramas oder eines Epos,
oder nach Lessing jede Erdichtung, womit der Dichter eine gewisse Absicht
verbindet". Auch Fabel im Sinne einer märchenhaften Geschichte aus längst
vergangener Zeit deckt eine Bedeutungsdimension des Wortgebrauchs hier ab:
Der Glaube an eine „wahre Welt" ist uns zu etwas geworden, was wir selbst
längst verloren haben, und von dem wir nur noch als Fabel wissen. Die
Geschichte, die N. hier erzählt, funktioniert im wahrsten Sinne des Wortes als
eine Ideengeschichte: Die Idee ist (z. B. 80, 5; 11 f.; 17 f.) in den ersten drei
Absätzen explizit das Subjekt, also — wie in der Fabel — eine allegorische
Personifikation, und verschwindet als „Idee" mit Ausnahme von 81, 1 in den
letzten drei Abschnitten — weil die sich aufklärenden „Geister" (81, 7) eben
nicht mehr an Ideen als handelnde Personen glauben können. Im Anschluss
an GD Die „Vernunft" in der Philosophie 1 handelt es sich bei GD Wie die
„wahre Welt" endlich zur Fabel wurde um einen Text, der genau jenen „histori-
sche[n] Sinn" vorführt, dessen „Mangel" N. bei den herkömmlichen Philoso-
phen beklagt: Während GD Die „Vernunft" in der Philosophie gerade keine
historische Erzählung präsentiert, sondern quasi im zeitlosen Raum Struktur-
defizite bisherigen Philosophierens aufdeckt, wird in GD Wie die „wahre Welt"
endlich zur Fabel wurde das eine Defizit, nämlich die Erfindung einer Jenseits-
Welt, temporalisiert und damit anschaulich gemacht, wie historisches Philoso-
phieren aussehen könnte — indem es narrative Gestalt annimmt, die dem ste-
ten Wandel angemessen ist. Der Untertitel „Geschichte eines Irrthums" unter-
streicht dies noch.
Die Unterteilung von GD Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde ist
offenkundig die Inversion des Sechstagewerks der göttlichen Schöpfung nach
Genesis 1: Während dort in sechs Tagen eine Welt erschaffen wird, wird sie
hier in sechs Tagen vernichtet — mit dem „INCIPIT ZARATHUSTRA" in 81, 14
 
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