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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0325
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306 Götzen-Dämmerung

ist dann eine Neuschöpfung möglich. Was die formale Gestaltung angeht, so
fällt angesichts der Rhythmisierung durch eine sehr starke Gliederung eine
Nähe zum Genre des Prosagedichts auf (vgl. z. B. Charles Baudelaire: Le Spleen
de Paris, 1869).
80, 3-7 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den
Tugendhaften, — er lebt in ihr, er ist sie. / (Älteste Form der Idee, relativ klug,
simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, bin die Wahrheit".)]
Die Wendung „ich [...] bin die Wahrheit" nimmt die Selbstprädikation Jesu bei
Johannes 14, 6 auf („Ich bin der Weg, und die Wahrheit, und das Leben"), die
schon in Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 330, 18-27 kritisiert wird, und
der N. beispielsweise in NL 1884, KSA 11, 25[338], 100 und in AC 46, KSA 6,
225, 6-10 die Frage des Pilatus, was denn Wahrheit sei, entgegensetzt (vgl.
dazu Sommer 2004). Die Ersetzung Jesu durch Platon als Erfinderfigur des
metaphysischen Weltendualismus (vgl. auch NK 81, 12-14) zeigt an, wie sehr
N. den Bereich der Religion dem der herkömmlichen Philosophie annähert: In
beiden Fällen wird diese Welt einer jenseitigen hintangestellt, wie gleich auch
die zweite Stufe der Irrtumsgeschichte (80, 8-12) zeigen wird. Wenn in 80, 3 f.
die „wahre Welt" mit der Tugend assoziiert wird, macht dies auf einen Aspekt
aufmerksam, der in den Nachlassnotizen deutlicher zum Tragen kommt als in
der Druckfassung, dass es nämlich bei der Frage nach der wahren und schein-
baren Welt nur vordergründig um ein Problem des Erkennens geht, hauptsäch-
lich aber um eine Frage der Wertung, insofern nämlich „die Vorstellung
von der anderen Welt immer zum Nachtheil, resp. zur Kritik dieser Welt
ausgefallen ist" (NL 1888, KSA 13, 14[168], 353, 8-10 = KGW IX 8, W II 5, 36,
2-4). In der Irrtumsgeschichte, die in 80, 1-18 erzählt wird, rückt die „wahre
Welt" in immer weitere Ferne, sie wird immer unerreichbarer, ohne dabei auf-
zuhören, moralisch fordernd zu sein.
80, 5-7 klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, bin
die Wahrheit".] In W II 5, 64 lautete diese Stelle: „vernünftig, simpel, thatsäch-
lich, sub specie Spinozae Umschreibung des Satzes ,ich, Spinoza, bin die
Wahrheit"' (KGW IX 8, W II 5, 64, 10-12, hier in der von N. überarbeiteten
Fassung ohne durchgestrichene Passagen wiedergegeben, vgl. KSA 14, 415).
Zunächst also umfasste die „Geschichte eines Irrthums" nur die neuzeitliche
Geistesgeschichte und wurde erst mit der Überarbeitung in die Antike zurück-
verlängert. Der Satz „ich, Spinoza, bin die Wahrheit" wiederum kann als
Schlussfolgerung aus Überlegungen Spinozas zur ewigen Freude verstanden
werden, die N. in NL 1887, 7[4], KSA 12, 260, 21-33 notiert: „So lange die Freude
sich auf etwas Einzelnes bezieht, ist sie beschränkt und vergänglich; sie wird
vollkommen, wenn sie nicht mehr mit den Dingen wechselt, sondern in dem
 
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