308 Götzen-Dämmerung
königsbergisch; im Grunde die alte Sonne(,) [...] aber durch Nebel und Skepsis
hindurch) [...] Die wahre Welt: unerreichbar, vielleicht auch nicht versprochen,
aber schon als geglaubt ein Trost, die Erlösung, die Ruhe." (KGW IX 8, W II 5,
64, 22-28-65, 48-51).
Kant hatte bekanntlich die klassischen Gegenstände der Metaphysik Welt,
Gott, Seele für unerkennbar durch die theoretische Vernunft erklärt, ihnen
aber als Postulate der praktischen Vernunft gleichwohl eine zentrale Stellung
eingeräumt. Hier erscheint Kants Philosophie (wie N. es auch bei Roberty 1887,
38 dargestellt finden konnte) als die alte Metaphysik in neuem Aufputz und
mit starkem ethischem Interesse. In AC 10 wird die Kritik an Kant als Krypto-
theologen noch schärfer artikuliert, vgl. NK KSA 6, 176, 27-177, 5. In GD Wie die
„wahre Welt" endlich zur Fabel wurde fehlt der denunziatorisch-invektivische
Gestus — als ob die hier erzählte Verfallsgeschichte eigentlich niemanden mehr
etwas anginge.
80, 19-24 4. Die wahre Welt — unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als
unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflich-
tend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?... / (Grauer Morgen.
Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)] Hatte die Meta-
physik in ihrer Kantischen Variante die schon vom Christentum vorgezeichnete
Entrückung der „wahren Welt" bis zum äußersten Punkt getrieben, wird aus
dieser Entrückung im Positivismus — vgl. z. B. Roberty 1887, der die Geschichte
der Philosophie als eine Überwindungsgeschichte abergläubischer Vorstellun-
gen schildert und betont, wie Comte den Positivismus in ein reflektiertes Sys-
tem verwandelt und der Wissenschaft zu ihrem philosophischen Recht verhel-
fen habe (ebd., 165) — die Konsequenz gezogen, dass uns nämlich eine „wahre
Welt", selbst wenn es sie gäbe, nichts mehr angeht —, dass aus ihr für unser
Leben nichts mehr folgt. (Vgl. auch Roberty 1887, 328, wonach drei Gründe den
Fortschritt des Denkens verhinderten: „En premier lieu, l'etat rudimentaire
dans lequel se trouve la psychologie; en second lieu, ,1'inconnaissable' qui,
remplagant partout ,1'inconnu', n'est qu'un nouveau terme pour designer la
,chose en soi'; enfin, la conception inexacte du materialisme et de l'idealisme".
„Erstens der rudimentäre Zustand, in dem sich die Psychologie befindet; zwei-
tens ,das Unerkennbare', das überall ,das Unbekannte' ersetzt, ist bloß eine
neue Bezeichnung für ,das Ding an sich'; endlich die ungenaue Konzeption
des Materialismus und des Idealismus.") Zum ersten Mal kommt in diesem
Kapitel in 80, 21 das Personalpronomen der ersten Person Plural vor — von
hier an findet eine Identifikation des Schreibenden mit dem Beschriebenen
statt (81, 4). Der vierte Abschnitt markiert die Peripetie der „Fabel", zögert aber
mit der Klammerbemerkung, die erst den allerersten Beginn einer neuen Sicht
andeutet, die Entspannung beim Leser noch hinaus.
königsbergisch; im Grunde die alte Sonne(,) [...] aber durch Nebel und Skepsis
hindurch) [...] Die wahre Welt: unerreichbar, vielleicht auch nicht versprochen,
aber schon als geglaubt ein Trost, die Erlösung, die Ruhe." (KGW IX 8, W II 5,
64, 22-28-65, 48-51).
Kant hatte bekanntlich die klassischen Gegenstände der Metaphysik Welt,
Gott, Seele für unerkennbar durch die theoretische Vernunft erklärt, ihnen
aber als Postulate der praktischen Vernunft gleichwohl eine zentrale Stellung
eingeräumt. Hier erscheint Kants Philosophie (wie N. es auch bei Roberty 1887,
38 dargestellt finden konnte) als die alte Metaphysik in neuem Aufputz und
mit starkem ethischem Interesse. In AC 10 wird die Kritik an Kant als Krypto-
theologen noch schärfer artikuliert, vgl. NK KSA 6, 176, 27-177, 5. In GD Wie die
„wahre Welt" endlich zur Fabel wurde fehlt der denunziatorisch-invektivische
Gestus — als ob die hier erzählte Verfallsgeschichte eigentlich niemanden mehr
etwas anginge.
80, 19-24 4. Die wahre Welt — unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als
unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflich-
tend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?... / (Grauer Morgen.
Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)] Hatte die Meta-
physik in ihrer Kantischen Variante die schon vom Christentum vorgezeichnete
Entrückung der „wahren Welt" bis zum äußersten Punkt getrieben, wird aus
dieser Entrückung im Positivismus — vgl. z. B. Roberty 1887, der die Geschichte
der Philosophie als eine Überwindungsgeschichte abergläubischer Vorstellun-
gen schildert und betont, wie Comte den Positivismus in ein reflektiertes Sys-
tem verwandelt und der Wissenschaft zu ihrem philosophischen Recht verhel-
fen habe (ebd., 165) — die Konsequenz gezogen, dass uns nämlich eine „wahre
Welt", selbst wenn es sie gäbe, nichts mehr angeht —, dass aus ihr für unser
Leben nichts mehr folgt. (Vgl. auch Roberty 1887, 328, wonach drei Gründe den
Fortschritt des Denkens verhinderten: „En premier lieu, l'etat rudimentaire
dans lequel se trouve la psychologie; en second lieu, ,1'inconnaissable' qui,
remplagant partout ,1'inconnu', n'est qu'un nouveau terme pour designer la
,chose en soi'; enfin, la conception inexacte du materialisme et de l'idealisme".
„Erstens der rudimentäre Zustand, in dem sich die Psychologie befindet; zwei-
tens ,das Unerkennbare', das überall ,das Unbekannte' ersetzt, ist bloß eine
neue Bezeichnung für ,das Ding an sich'; endlich die ungenaue Konzeption
des Materialismus und des Idealismus.") Zum ersten Mal kommt in diesem
Kapitel in 80, 21 das Personalpronomen der ersten Person Plural vor — von
hier an findet eine Identifikation des Schreibenden mit dem Beschriebenen
statt (81, 4). Der vierte Abschnitt markiert die Peripetie der „Fabel", zögert aber
mit der Klammerbemerkung, die erst den allerersten Beginn einer neuen Sicht
andeutet, die Entspannung beim Leser noch hinaus.