318 Götzen-Dämmerung
83, 1 „Armen des Geistes"] Der ebenfalls aus der Bergpredigt stammende
Begriff — Matthäus 5, 3 — taucht in N.s späten Schaffensjahren gelegentlich
auf, z. B. in GM III 25, KSA 5, 403, 29; WA 5, KSA 6, 21, 25, NL 1884, KSA 11,
25[178], 61 (als Gegenwartsanalyse: „das Himmelreich der Armen des Geistes
hat begonnen") und NL 1887, KSA 12, 10[124], 529, 5 (KGW IX 6, W II 2, 54, 4).
83, 2-4 Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem
Sinne: ihre Praktik, ihre „Kur" ist der Castratismus.] Kastration als Verstüm-
melungspraxis im buchstäblichen Sinn thematisiert N. in GM II 3 im Zusam-
menhang mit der gewaltsamen Konstitution des Gewissens (KSA 5, 294-298),
während N. in NL 1887, KSA 12, 10[50], 479 (KGW IX 6, W II 2, 107, 34-41) und
KSA 12, 10[100], 512 f. (KGW IX 6, W II 2, 69, 22-26) über die Kastration von
Verbrechern nachsinnt. Schon in N.s frühen Aufzeichnungen hat es unter den
Philologen verachtungswürdige Kastraten gegeben (vgl. z. B. NL 1872-1873,
KSA 7, 19[58], 438); demgegenüber tritt die Assoziation von Kastratismus und
Christentum bzw. Moral erst in N.s Spätschriften auf — vgl. GD Moral als Wider-
natur 4, KSA 6, 85, 28 f.; AC 16, KSA 6, 182, 21-23 (Kastration Gottes); NL 1887,
KSA 12, 10[157], 545-549 (KGW IX 6, W II 2, 33-36) („idealer Castratismus",
später verbessert in „Moral-Castratismus"); NL 1888, KSA 13, 15[42], 436
(Gewissen in übertragenenem Sinn als Kastration des Geistes); NL 1888, KSA
13, 23[1], 599 (Kastration als eine der „härtesten Zwangs-Maaßregeln"). Kastra-
tismus — natürlich auf dem Hintergrund der entsprechenden neutestamentli-
chen Empfehlung, vgl. NK 82, 14 — wird zu einer Leitmetapher in der Beschrei-
bung des Verhältnisses von Christentum und Leben — wobei die kulturelle
Leistung von Kastraten in der Musik außer Betracht fällt, wäre dies doch eine
Vergeistigung, die N. dem Christentum im Umgang mit den Leidenschaften
gerade abspricht. Vgl. NK 143, 20-22.
83, 8 f. Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an
der Wurzel angreifen] Stellen wie diese legen eine vitalistische Identifikation
von Leben und Leidenschaften nahe, damit eine Präferenz für unbewusste
Lebensvollzüge. Allerdings ist der strategische Einsatz dieser Identifikation
nicht zu verkennen. Beispielsweise in AC 45, KSA 6, 221, 19-23 wird unter
Rückgriff auf Markus 9, 47 gezeigt, inwiefern das Christentum ,radikal' ist, d. h.
bei der Bekämpfung des Lebens an die Wurzeln geht, indem es nämlich das
zu ,Ärger' Anlass gebende Körperteil einfach auszureißen gebietet.
2
83, 15 jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben] In UB III SE 3 erinnert N.
daran, dass sich Schopenhauer „mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des
83, 1 „Armen des Geistes"] Der ebenfalls aus der Bergpredigt stammende
Begriff — Matthäus 5, 3 — taucht in N.s späten Schaffensjahren gelegentlich
auf, z. B. in GM III 25, KSA 5, 403, 29; WA 5, KSA 6, 21, 25, NL 1884, KSA 11,
25[178], 61 (als Gegenwartsanalyse: „das Himmelreich der Armen des Geistes
hat begonnen") und NL 1887, KSA 12, 10[124], 529, 5 (KGW IX 6, W II 2, 54, 4).
83, 2-4 Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem
Sinne: ihre Praktik, ihre „Kur" ist der Castratismus.] Kastration als Verstüm-
melungspraxis im buchstäblichen Sinn thematisiert N. in GM II 3 im Zusam-
menhang mit der gewaltsamen Konstitution des Gewissens (KSA 5, 294-298),
während N. in NL 1887, KSA 12, 10[50], 479 (KGW IX 6, W II 2, 107, 34-41) und
KSA 12, 10[100], 512 f. (KGW IX 6, W II 2, 69, 22-26) über die Kastration von
Verbrechern nachsinnt. Schon in N.s frühen Aufzeichnungen hat es unter den
Philologen verachtungswürdige Kastraten gegeben (vgl. z. B. NL 1872-1873,
KSA 7, 19[58], 438); demgegenüber tritt die Assoziation von Kastratismus und
Christentum bzw. Moral erst in N.s Spätschriften auf — vgl. GD Moral als Wider-
natur 4, KSA 6, 85, 28 f.; AC 16, KSA 6, 182, 21-23 (Kastration Gottes); NL 1887,
KSA 12, 10[157], 545-549 (KGW IX 6, W II 2, 33-36) („idealer Castratismus",
später verbessert in „Moral-Castratismus"); NL 1888, KSA 13, 15[42], 436
(Gewissen in übertragenenem Sinn als Kastration des Geistes); NL 1888, KSA
13, 23[1], 599 (Kastration als eine der „härtesten Zwangs-Maaßregeln"). Kastra-
tismus — natürlich auf dem Hintergrund der entsprechenden neutestamentli-
chen Empfehlung, vgl. NK 82, 14 — wird zu einer Leitmetapher in der Beschrei-
bung des Verhältnisses von Christentum und Leben — wobei die kulturelle
Leistung von Kastraten in der Musik außer Betracht fällt, wäre dies doch eine
Vergeistigung, die N. dem Christentum im Umgang mit den Leidenschaften
gerade abspricht. Vgl. NK 143, 20-22.
83, 8 f. Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an
der Wurzel angreifen] Stellen wie diese legen eine vitalistische Identifikation
von Leben und Leidenschaften nahe, damit eine Präferenz für unbewusste
Lebensvollzüge. Allerdings ist der strategische Einsatz dieser Identifikation
nicht zu verkennen. Beispielsweise in AC 45, KSA 6, 221, 19-23 wird unter
Rückgriff auf Markus 9, 47 gezeigt, inwiefern das Christentum ,radikal' ist, d. h.
bei der Bekämpfung des Lebens an die Wurzeln geht, indem es nämlich das
zu ,Ärger' Anlass gebende Körperteil einfach auszureißen gebietet.
2
83, 15 jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben] In UB III SE 3 erinnert N.
daran, dass sich Schopenhauer „mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des