320 Götzen-Dämmerung
typischen) Selbstwiderspruch. Ausdrücke aus dem Wortfeld der Impotenz sind
bei N. übrigens ziemlich selten. Zum Thema Askese bei N. ausführlich GM
Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale, KSA 5, 339-412.
3
84, 2 f. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein grosser
Triumph über das Christenthum.] Vgl. NK 82, 20-23. Herrmann 1887, 218-222
(diverse Lesespuren N.s, vgl. NPB 292) stellt demgegenüber sowohl die (christli-
che) Religion als auch die Liebe als Domestikationen roher Sinnlichkeit dar,
wobei die Liebe diese Domestikationsfunktion allmählich ganz übernommen
zu haben scheint. Die „Vergeistigung der Liebe" in der Renaissance, nämlich
bei nichterfüllter Begierde, beschreibt Burckhardt 1930a, 5, 321, während Julian
Schmidt 1853, 65 notiert: „In der Vergeistigung der Sinnlichkeit hat Goethe
unter den Dichtern aller Nationen das Höchste geleistet, weil bei ihm die
feinste Empfänglichkeit einer urkräftigen Natur mit der zartesten Schamhaftig-
keit einer vornehmen Seele sich paarte. [...] In den Zeiten Werther's mußte
allerdings die Leidenschaft gegen das verknöcherte System des Pietismus
ankämpfen; wenn aber heutzutage unsere Lyriker noch Elegien darüber schrei-
ben, daß das Christenthum die Sinnlichkeit ertödtet habe, und ein neues
Lucindenevangelium verkündigen, so zeigen sie damit nur die Unreife ihres
Gemüths und die Blindheit ihrer Phantasie."
84, 3-7 Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie
besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben:
kurz, dass man umgekehrt thut und schliesst als man ehedem that und schloss.]
Hier scheint das von N. im Frühwerk herausgearbeitete agonale Modell, das
Leistung in fruchtbarer Konkurrenz begründet sieht, noch wirksam zu sein,
vgl. NWB 1, 62. Man hat auch versucht, dezidiert politische Feindschaftskon-
zeptionen wie bei Carl Schmitt mit N.-Zitaten wie 84, 3-7 in Verbindung zu
bringen, vgl. Laak 2002, 288.
84, 7-9 Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir,
wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche
besteht...] In GM I 9 kolportiert N. die Einrede eines „Freigeistes", der sich
mit der Verchristlichung oder Verpöbelung der Welt abzufinden bereit zu sein
scheint. Ihm legt N. die Worte in den Mund: „Wer von uns würde wohl Freigeist
sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, nicht ihr
Gift... Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift..." (KSA 5, 270, 16-18)
Während das Ich in GM I 9 zu dieser Haltung „viel zu schweigen" hat, scheint
typischen) Selbstwiderspruch. Ausdrücke aus dem Wortfeld der Impotenz sind
bei N. übrigens ziemlich selten. Zum Thema Askese bei N. ausführlich GM
Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale, KSA 5, 339-412.
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84, 2 f. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein grosser
Triumph über das Christenthum.] Vgl. NK 82, 20-23. Herrmann 1887, 218-222
(diverse Lesespuren N.s, vgl. NPB 292) stellt demgegenüber sowohl die (christli-
che) Religion als auch die Liebe als Domestikationen roher Sinnlichkeit dar,
wobei die Liebe diese Domestikationsfunktion allmählich ganz übernommen
zu haben scheint. Die „Vergeistigung der Liebe" in der Renaissance, nämlich
bei nichterfüllter Begierde, beschreibt Burckhardt 1930a, 5, 321, während Julian
Schmidt 1853, 65 notiert: „In der Vergeistigung der Sinnlichkeit hat Goethe
unter den Dichtern aller Nationen das Höchste geleistet, weil bei ihm die
feinste Empfänglichkeit einer urkräftigen Natur mit der zartesten Schamhaftig-
keit einer vornehmen Seele sich paarte. [...] In den Zeiten Werther's mußte
allerdings die Leidenschaft gegen das verknöcherte System des Pietismus
ankämpfen; wenn aber heutzutage unsere Lyriker noch Elegien darüber schrei-
ben, daß das Christenthum die Sinnlichkeit ertödtet habe, und ein neues
Lucindenevangelium verkündigen, so zeigen sie damit nur die Unreife ihres
Gemüths und die Blindheit ihrer Phantasie."
84, 3-7 Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie
besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben:
kurz, dass man umgekehrt thut und schliesst als man ehedem that und schloss.]
Hier scheint das von N. im Frühwerk herausgearbeitete agonale Modell, das
Leistung in fruchtbarer Konkurrenz begründet sieht, noch wirksam zu sein,
vgl. NWB 1, 62. Man hat auch versucht, dezidiert politische Feindschaftskon-
zeptionen wie bei Carl Schmitt mit N.-Zitaten wie 84, 3-7 in Verbindung zu
bringen, vgl. Laak 2002, 288.
84, 7-9 Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir,
wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche
besteht...] In GM I 9 kolportiert N. die Einrede eines „Freigeistes", der sich
mit der Verchristlichung oder Verpöbelung der Welt abzufinden bereit zu sein
scheint. Ihm legt N. die Worte in den Mund: „Wer von uns würde wohl Freigeist
sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, nicht ihr
Gift... Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift..." (KSA 5, 270, 16-18)
Während das Ich in GM I 9 zu dieser Haltung „viel zu schweigen" hat, scheint