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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0341
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322 Götzen-Dämmerung

„inneren Feind", schließlich zum Teufel (vgl. AC 23, KSA 6, 189, 32-190, 3. —
Jesu Kampf gegen die Sünde wird in der exegetischen Literatur häufig als
Kampf gegen einen „inneren Feind" beschrieben, vgl. z. B. Weiße 1838, 1,
280 f.; und gerade in der kirchenkritischen Literatur ist vom „inneren Feind",
vom Selbstwiderspruch innerhalb der Kirche die Rede, vgl. Bauer 1840, VIII).
Die Umkehrung der religiösen Sprechweise vom „inneren Feind" ist freilich
keine Innovation N.s, sondern wird beispielsweise auch in einem in Georg
Christoph Lichtenbergs Schriften überlieferten, anonymen Artikel über reli-
giöse Schwärmerei von 1782 erprobt, den N. gekannt haben könnte: „Aber ein
innerer Feind, des man sich nicht verstehet, den wir hegen und pflegen, der
im Nebel wandelt, und dicken Nebel um sich verbreitet, scheint uns mit dieser
Gefahr zu beschleichen. Es ist die überhand nehmende Seuche der Schwärme-
rei: denn, wer noch Augen hat zu sehen, der schaue um sich, wie diese Träu-
mereien sich jetzt ausbreiten und dem hellen Lichte der Vernunft Trotz bieten."
(Lichtenberg 1867, 5, 72).
84, 21-23 Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von Ehedem,
die vom „Frieden der Seele", die christliche Wünschbarkeit] Stille (yaÄf[vr[) der
Seele ist bereits bei Platon ein großes Thema (Nomoi 791a); der Eros schafft Frie-
den und Meeresstille (Symposion 197c) — ein Motiv, das in die epikureischen, sto-
ischen und pyrrhoneischen Bemühungen um die dTapa^ia und tranquillitas
animi eingeht. Im Neuen Testament wird den Beladenen Ruhe (dvdnavoiq) in
Aussicht gestellt (z. B. Matthäus 11, 28 f.; 1. Korinther 16, 18); Jesus verheißt sei-
nen Frieden (Johannes 14, 27, vgl. 16, 33) und Clemens von Alexandrien spricht
dann neben der Stille (jouxia) vom Frieden (eipfivp), der mit der wahren christli-
chen Erkenntnis einhergehe (Paidagogos II 7 u. 10, Stromateis II 11, 52, 4). N. greift
das Motiv mit der von Augustin verwendeten Metapher des ,„Sabbat[s] der Sab-
bate"' in JGB 200, KSA 5, 121, 4 und an einigen Nachlassstellen auf (vgl. die Quel-
lennachweise bei Rahden 1999, 370). Im neueren deutschen Sprachgebrauch ist
Seelenruhe eher philosophisch konnotiert (zur philosophischen Begriffsge-
schichte Probst / Dierse 1995), während Seelenfrieden eine stark religiöse Fär-
bung hat (vgl. die Belege bei Grimm 1854-1971, 16, 11), obwohl Seelenfrieden
durchaus auch in der von N. gelesenen, philosophischen Literatur ohne solche
Färbung vorkommt (z. B. bei Teichmüller 1882, 109).
Bei N. ist „Friede der Seele" in MA I 131, KSA 2, 124, 8 im Grenzbereich
von Metaphysik und Theologie angesiedelt oder in AC 16, KSA 6, 183, 3 f. dezi-
diert als ein religiöses Verlangen verstanden, das aus der Dekadenz geboren
ist. Jedenfalls gehört der Ausdruck zu den kritikbedürftigen „großen
Worte[n]" (NL 1887/88, KSA 13, 11[316], 133, 24 = KGW IX 7, W II 3, 65, 6). Zur
Depotenzierung des „grossen Wortes" wird in 84, 24-85, 15 die ganze Band-
breite dessen, was „Frieden der Seele" heißen könnte, entfaltet und die physio-
 
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