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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0355
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336 Götzen-Dämmerung

Begriff der Causalität" verhandelte N. die archaischen religiösen Vorstellungen
in seiner Basler Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen (KGW II 5, 365, 20,
vgl. dazu Kimmerle 2008, 505 u. 511), wobei die dort gegebene Erklärung die
klassische Verwechslung des post hoc mit dem propter hoc meint und in der
Typologie von GD eher in die Kategorie der imaginären Ursachen gehört (GD
Die vier grossen Irrthümer 4): „Falscher Begriff der Causalität, Ver-
wechslung des Nacheinander mit dem Begriff der Wirkung. ,Jemand nahm den
Trank ein; später wurde er gesund — also in Folge des Trankes!' so schließt
man. Der König der Coussa-Kaffern hatte ein Stück von einem gestrandeten
Anker abgebrochen und starb bald darauf. Sämmtliche Kaffern hielten nun-
mehr den Anker für ein lebendiges Wesen und grüßten ihn ehrfurchtsvoll,
sobald sie in seine Nähe kamen." (KGW II 5, 365, 20-27) M 10 bringt unter dem
Stichwort „phantastischer Causalitäten" (KSA 3, 24, 27 f.) das zuneh-
mende Wissen um natürliche Kausalverhältnisse mit einem Schwinden „des
Reiches der Sittlichkeit" (KSA 3, 24, 23 f.) in Verbindung, weil man sich eben
keine moralischen Ursachen für das Geschehen mehr ausdenken müsse. Mit
dem Fortschritt der Wissenschaft würden, so die Implikation, sich auch falsche
und imaginäre Kausalitäten von selbst erledigen. Während es hier wie in der
Vorlesung um archaisch religiöse Vorstellungen geht, ist in GD Die vier grossen
Irrthümer 3 das umgangssprachliche und wissenschaftliche Gegenwartsvoka-
bular für den Irrtum hochgradig anfällig — und so haben sich die in M 10 noch
optimistischen Erwartungen deutlich eingetrübt. N. wendet in 90, 13-91, 32 die
in der religionswissenschaftlichen Betrachtung erprobte Entlarvung falscher
Ursachen auf die landläufigen säkularen Ursachenbehauptungen, nämlich
Wille, Geist und Ich an, um sie als irrig zu brandmarken.
90, 16-18 Aus dem Bereich der berühmten „inneren Thatsachen", von denen
bisher keine sich als thatsächlich erwiesen hat.] Auf eine nicht ridikülisierte
„innere Thatsache" nimmt N. in MA I 612, KSA 2, 347, 13 noch recht selbstver-
ständlich Bezug. Die philosophische und psychologische Literatur des 19. Jahr-
hunderts benutzt den Ausdruck der „inneren Thatsachen" freihändig im Sinne
eines unmittelbar Gewussten und innerlich Gegebenen, beispielsweise Johann
Friedrich Herbart in seiner Psychologie als Wissenschaft (vgl. Herbart 1850, 211
u. ö.). Zur Entstehungszeit von GD sind die „inneren Thatsachen" Gegenstand
erkenntnistheoretischer Debatten; so benutzt Engelbert Lorenz Fischer den
Ausdruck in seinen Grundfragen der Erkenntnisstheorie (1887, 223 f.) zur Kritik
des Idealismus. Die „inneren Thatsachen" werden oft in juristischem und dann
besonders in theologischem Kontext gebraucht, um die Realität bestimmter
Glaubenssätze zu artikulieren. Strauß 1862, 281 diskutiert in kritischer Absicht
etwa, inwiefern, wenn die Auferstehung Jesu als innere Tatsache akzeptiert
 
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