342 Götzen-Dämmerung
tionen" (vgl. NK 69, 15-17) spricht Lelut 1856, 40 und 42 von deren „causes
imaginaires". Zu den systematischen Aspekten von N.s Kritik siehe Klaiber
2008. Vgl. AC 15, KSA 6, 181 f.
92, 2-16 Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel
in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache unterge-
schoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Haupt-
person ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz:
sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu
treten, — nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn". Der Kanonenschuss
tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit.
Das Spätere, die Motivierung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelheiten,
die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist geschehen? Die Vorstel-
lungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben
missverstanden. — Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso.] Vgl. Mach
1886, 107 f.: „Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phäno-
men beobachtet. Ich sass in die Arbeit vertieft in meinem Zimmer, während in
einem Nebenzimmer Versuche über Explosionen angestellt wurden. Regelmäs-
sig geschah es nun, dass ich zuerst erschreckt zusammenzuckte, und nachher
erst den Knall hörte. / Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist,
so kommen in diesem Fall die sonderbarsten Anachronismen vor, und jeder
hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von einem Mann, der auf uns
losstürzt und schiesst, erwachen plötzlich, und bemerken den Gegenstand, der
durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt hat. Es hat nun nichts Widersinni-
ges anzunehmen, dass der akustische Reiz verschiedene Nervenbahnen
zugleich einschlägt, und hier in beliebiger verkehrter Ordnung von der Auf-
merksamkeit angetroffen wird, so wie ich bei der obigen Beobachtung zuerst
die allgemeine Erregung, und dann den Explosionsknall bemerkte. Freilich
wird es in manchen Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer
Sinnesempfindung in ein vorher schon vorhandenes Traumbild anzunehmen."
(Nachweis bei Brobjer 2003b, 450 f.: zu Mach und N. vgl. Gori 2007).
Eine ähnliche Beobachtung schildert auch Richet 1884, 128. Bei N. taucht
freilich das Thema Traum/Kanonenschuss lange vor der Mach- und Richet-
Lektüre auf, nämlich in MA I 13, KSA 2, 32, 31-33, 20: „der Traum aber ist das
Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene erregten Empfindun-
gen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit
zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umrin-
geln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleiten-
den bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: ,diese Schlangen müssen die
causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe', — so urtheilt
der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird
tionen" (vgl. NK 69, 15-17) spricht Lelut 1856, 40 und 42 von deren „causes
imaginaires". Zu den systematischen Aspekten von N.s Kritik siehe Klaiber
2008. Vgl. AC 15, KSA 6, 181 f.
92, 2-16 Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel
in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache unterge-
schoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Haupt-
person ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz:
sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu
treten, — nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn". Der Kanonenschuss
tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit.
Das Spätere, die Motivierung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelheiten,
die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist geschehen? Die Vorstel-
lungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben
missverstanden. — Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso.] Vgl. Mach
1886, 107 f.: „Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phäno-
men beobachtet. Ich sass in die Arbeit vertieft in meinem Zimmer, während in
einem Nebenzimmer Versuche über Explosionen angestellt wurden. Regelmäs-
sig geschah es nun, dass ich zuerst erschreckt zusammenzuckte, und nachher
erst den Knall hörte. / Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist,
so kommen in diesem Fall die sonderbarsten Anachronismen vor, und jeder
hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von einem Mann, der auf uns
losstürzt und schiesst, erwachen plötzlich, und bemerken den Gegenstand, der
durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt hat. Es hat nun nichts Widersinni-
ges anzunehmen, dass der akustische Reiz verschiedene Nervenbahnen
zugleich einschlägt, und hier in beliebiger verkehrter Ordnung von der Auf-
merksamkeit angetroffen wird, so wie ich bei der obigen Beobachtung zuerst
die allgemeine Erregung, und dann den Explosionsknall bemerkte. Freilich
wird es in manchen Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer
Sinnesempfindung in ein vorher schon vorhandenes Traumbild anzunehmen."
(Nachweis bei Brobjer 2003b, 450 f.: zu Mach und N. vgl. Gori 2007).
Eine ähnliche Beobachtung schildert auch Richet 1884, 128. Bei N. taucht
freilich das Thema Traum/Kanonenschuss lange vor der Mach- und Richet-
Lektüre auf, nämlich in MA I 13, KSA 2, 32, 31-33, 20: „der Traum aber ist das
Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene erregten Empfindun-
gen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit
zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umrin-
geln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleiten-
den bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: ,diese Schlangen müssen die
causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe', — so urtheilt
der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird