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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0375
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356 Götzen-Dämmerung

96, 32-97, 5 Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art
des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt
weder als Sensorium, noch als „Geist" eine Einheit ist, dies erst ist die
grosse Befreiung, — damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder
hergestellt...] In N.s Werken erscheint die „Unschuld des Werdens" nur hier
sowie in 96, 8. Im Nachlass wird sie insbesondere 1883 intensiv reflektiert als
eine alle Zwecke ausschließende Betrachtung der Dinge (NL 1883, KSA 10, 7[21],
245, 10-12, vgl. 7[268], 323, 3; 8[19], 340, 22-341, 3; 14[1], 475, 2; 16[49], 514,
3 f.; 16[84], 528, 21; 21[3], 599, 18); sie wird sogar als Buchtitel mit dem Zusatz
„Ein Wegweiser zur Erlösung von der Moral" in Erwägung gezogen (ebd., 8[26],
343, 10 f.; 1931 stellte Alfred Baeumler seine zweibändige Auswahl von N.-
Nachlasstexten unter den Titel „Unschuld des Werdens", vgl. Kr III, 387). Das
Schlagwort, das 1883 so häufig bemüht wurde, verschwindet aber bald wieder
und kehrt nur noch sporadisch wieder. So 1885 im Zuge einer scharfsichtigen
Selbstevaluation: „Wie lange ist es nun her, daß ich bei mir selber bemüht bin,
mir die vollkommne Unschuld des Werdens mir zu beweisen! Und welche
seltsamen Wege bin ich dabei schon gegangen! Ein Mal schien mir dies die
richtige Lösung, daß ich dekretirte: ,das Dasein ist, als etwas von der Art eines
Kunstwerks, gar nicht unter der jurisdictio der Moral; vielmehr gehört die
Moral selber in's Reich der Erscheinung.' Ein ander Mal sagte ich: alle Schuld-
Begriffe sind objective völlig werthlos, subjective aber ist alles Leben nothwen-
dig ungerecht und alogisch. Ein drittes Mal gewann ich mir die Leugnung aller
Zwecke ab und empfand die Unerkennbarkeit der Causal-Verknüpfungen. Und
wozu dies Alles? War es nicht, um mir selber das Gefühl völliger Unverantwort-
lichkeit zu schaffen — mich außerhalb jedes Lobs und Tadels, unabhängig
von allem Ehedem und Heute hinzustellen, um auf meine Art meinem Ziele
nachzulaufen?" (NL 1885, KSA 11, 36[10], 553, 9-23, korrigiert nach KGW IX 4,
W I 4, 46, 2-26).
Direkt einschlägig für die Interpretation von 96, 8 und 97, 4 f. ist der religi-
ons- und metaphysikkritische Kontext der Aufzeichnung NL 1887, KSA 12, 9[91],
385, 33-386, 5 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 72, 28-34): „Sobald wir uns
Jemanden imaginiren, der verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind
usw(.) (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als
Absicht zulegen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir
haben dann Jemanden, der durch uns und mit uns etwas erreichen will." Wäh-
rend 1883 die teleologische Naturbetrachtung mit Hilfe der Unschuld des Wer-
dens der Kritik verfällt und in NL 1887, 9[91] das Hinzuerfinden einer uns her-
vorbringenden, für uns verantwortlichen, absichtsvollen Instanz die Unschuld
des Werdens kontaminiert, kombiniert GD Die vier grossen Irrthümer 8 die
Kritik am naturphilosophischen Zweckbegriff (96, 26 f.) mit der Kritik an einer
 
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