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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0383
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364 Götzen-Dämmerung

99, 19 schönsten Exemplare der „blonden Bestie"] N.s Ausdruck „blonde Bes-
tie", der in seinem veröffentlichten Werk nur hier sowie erstmalig in GM I 11,
KSA 5, 275 f. erscheint, hat in der Rezeptions- und Deutungsgeschichte enor-
men Widerhall gefunden, ohne dass dies durch die Marginalität des Vorkom-
mens hinreichend gerechtfertigt wäre. Die Assoziation von Germane, Barbar,
Bestie, blond und Löwe (flava bestia) geht bereits auf antike Quellen zurück,
vgl. Brennecke 1976, 130-139 u. Ottmann 1999, 255. Mit dem Aufkommen einer
arischen Rassentheorie bei Gobineau wurde „blond" entsprechend zum Merk-
mal der Arier. Solchen biologischen Rassentheorien stand N. (z. T. unter dem
Eindruck Virchows?, vgl. Schank 2000, 7-12) allerdings kritisch gegenüber, vgl.
Schank 2004 u. Orsucci 1996, 344-350. In der Forschung hat man stets auch
griechische Wurzeln für die Erhellung der „blonden Bestie" in Erwägung gezo-
gen — insbesondere die Rede des Sophisten Kallikles bei Platon, wonach die
starken Individuen durch soziale Ordnungsgefüge wie junge Löwen dressiert
würden (Platon: Gorgias 483e). Auch Thukydides: Geschichte des Peloponnesi-
schen Krieges II 39, der in GM I 11, KSA 5, 275, 20-30 zitiert wird, pflegt — auch
wenn es da nichts Blondes gibt — als von N. womöglich missbrauchte Quelle
genannt zu werden (Müller 1958). Eine Zusammenstellung der breiten For-
schungs- und Deutungsdiskussionen zur „blonden Bestie" findet sich in NWB
407-411, knapper in NH 205 f.
In Otto Casparis Urgeschichte der Menschheit, in der nicht nur der Kampf
zwischen Priestern und physisch Starken als geschichtliche Tatsache behan-
delt wird (Caspari 1877, 2, 178-205; vgl. NK KSA 6, 174, 31-175, 3), sondern
auch viel über die „ursprüngliche Nahrungsconcurrenz der Urmenschen und
Raubthiere" (Caspari 1877, 1, 124) sowie über den Tierkult und die mythische
Verwandlung von Menschen in Tiere (z. B. ebd., 1, 405-416) gesagt wird, ist
von „blonden Bestien" explizit augenscheinlich nicht die Rede. Die französi-
sche Wendung „bete blonde" kommt bereits 1884 im skandalträchtigen deca-
dence-Roman Monsieur Venus von Marguerite Eymery, verheiratete Madame
Alfrede Vallette (1860-1953) alias Rachilde vor, dort freilich nicht in einer
Reflexion auf die Menschheitsgeschichte, sondern in einer pikanten Szene:
„Son bras se detendit, elle passa la main sur la poitrine de l'ouvrier, comme
elle l'eüt passee sur une bete blonde, un monstre dont la realite ne lui semblait
pas prouve." (Rachilde 2004, 17. „Ihr Arm entspannte sich, sie fuhr mit der
Hand über die Brust des Arbeiters, wie wenn sie eine blonde Bestie gestreichelt
hätte, ein Monster, dessen Existenz für sie nicht bewiesen war.").
Rezeptionsgeschichtlich macht die „blonde Bestie" eigentümliche Trans-
formationen durch. So wird das Blonde 1903 in Thomas Manns Tonio Kröger,
der sich unentwegt an N.s Künstlerproblematik abarbeitet, nicht zum Inbegriff
des barbarischen Schreckens, sondern des Gewöhnlichen: „meine tiefste und
 
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