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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0391
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372 Götzen-Dämmerung

der „heiligen Lüge" kommt in N.s Werken in MA II VM 299, KSA 2, 501 eingebet-
tet in eine politische Gegenwartskritik sowie in M 27, KSA 3, 37 f. im Kontext
von Liebe und Ehe vor. Religionskritisch pointiert wird die Wendung in JGB
105, KSA 5, 92: „Dem freien Geiste, dem ,Frommen der Erkenntniss' — geht die
pia fraus noch mehr wider den Geschmack (wider seine ,Frömmigkeit') als
die impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum
Typus ,freier Geist' gehört, — als seine Unfreiheit." (Vgl. NL 1882, KSA 10,
3[1]378, 99).
NL 1885/86, KSA 12, 1[18], 15, 2 (KGW IX 2, N VII 2, 162, 26-28) bringt Platon
explizit mit der „pia fraus" in Verbindung (wie Kant mit dem Kategorischen
Imperativ); ein paar Notizen später wird für die „jetzige Stufe der Moralität"
der Verzicht auf die „pia fraus" mit Ausrufezeichen gefordert (NL 1885/86, KSA
12, l[40], 19, 17 f. = KGW IX 2, N VII 2, 153, 10-18).
NL 1887, KSA 12, 9[50], 360 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 106, 22-24)
wird erstmals religionsgeschichtlich konkreter, und zwar im Blick auf das
„Volk", auf dessen Boden das Neue Testament entstanden sei, nämlich auf
die Juden (hier ohne durchgestrichene Passagen wiedergegeben): „dies Volk
handhabt die pia fraus mit einer Vollendung, mit einem Grad ,guten Gewis-
sens'/,) (daß) man nicht vorsichtig gegen [genug?] sein kann, wenn es Moral
predigt." Die Psychologie der Lüge und das Motiv ihrer vorgeblichen Heiligkeit,
das zum eisernen Bestand des antiklerikalen Repertoires gehört, nimmt N. aus-
führlich in AC 55 auf, vgl. NK KSA 6, 237, 21-239, 24. Im späten Nachlass thema-
tisiert N. inspiriert von Stendhal und Napoleon das Verhältnis von Macht und
Lüge, so im Exzerpt NL 1887/88, KSA 13, 11[33], 19 (korrigiert nach KGW IX 7,
W II 3, 188, 54-58): ,„une croyance presque instinctive chez moi c'est que tout
homme puissant ment quand il parle, et ä plus forte raison quand il ecrit.' /
Stendhal." (,„Eine schon fast instinktive Überzeugung von mir ist, dass jeder
mächtige Mann lügt, wenn er spricht und noch mehr, wenn er schreibt.' /
Stendhal." Ähnlich mit genauem Nachweis des Zitats NL 1886, 4[2], KSA 12,
177: „Stendhal, vie de Napoleon, preface p. XV.") Vgl. Berard-Varagnac 1887,
58 f., wo Stendhal zuerst zugibt, dass Napoleon ein Lügner gewesen sei, und
dann die von N. wiedergegebene Stelle zitiert wird (ebd., 59). Nicht nur die
Philosophen und Priester, sondern auch Politiker bedürfen nach N.s Lektüren
der Lüge — ein Aspekt, den er in GD Die „Verbesserer" der Menschheit freilich
ausblendet, ginge dann doch die Pointe verloren, Moral durch unmoralische
Mittel zu implementieren.
102, 17-22 Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und
christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an
ganz andren Rechten nicht gezweifelt... In Formel ausgedrückt dürfte man
sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden
 
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