376 Götzen-Dämmerung
herzieht: „Es ist in jüngster Zeit viel von der Gleichgültigkeit des Staates gegen
die Literatur geredet worden. / Dass Fürst Bismarck eine Brochüre über Korn-
zölle für wichtiger hält, als die bedeutsamste Dichterschöpfung, daran kann
kein Zweifel sein. Doch wollen wir von dem Schiedsrichter Europa's nicht ver-
langen, dass er Musse finde, der Literatur ein besonderes Interesse zu widmen.
Einer höheren und freieren Auffassung der Dinge, welche die Entwickelung des
Menschengeistes als das einzig Wesenhafte und Dauernde in dem flüchtigen
Nebeltanz der ephemeren äusseren Ereignisse auffasst, mag freilich eine origi-
nale Dichterthat wichtiger erscheinen, als alle realen Vorgänge. Nehmen wir
aber die stricte Thatsache, dass dem preussischen Mandarinenthum die ganze
Poesie als etwas ebenso Ueberflüssiges wie Plebejisches gilt, in ihrer ganzen
Schärfe hin. Die Sympathie oder Antipathie der Staatsgewalt wird einem von
der Würde und Grösse seines Berufes durchdrungenen echten Dichter
auch vollkommen gleichgültig sein." (Bleibtreu 1886b, 73, sehr ähnlich Bleib-
treu 1886a, 73) Später fügt Bleibtreu 1886b, 79 noch hinzu: „Der Reichskanzler
nennt Gelehrte und Schriftsteller nationalökonomisch ,unproductiv'. Vielleicht
hat das ideal productive Wirken der deutschen Dichter es ihm mit ermöglicht,
die so lange vorbereitete Einigung Deutschlands an seinen Namen zu knüp-
fen." Da N. die zeitgenössischen Dichter geringschätzt, die Bleibtreu gerade
wenn sie als Realisten und Naturalisten auftreten, für die Wegbereiter der
Zukunft hält, kann er in einer ironischen Übersteigerung im Dienste der
Umwertung ausgerechnet den erklärten Feind aller dichterischen Bemühun-
gen, eben Bismarck, zum einzig valablen deutschen Schriftsteller und Denker
der Gegenwart ausrufen.
104, 8 f . Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest?...
Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit!] Konkreter wird NL 1888, KSA 13,
19[1]: 540, 15-19: „Sollte ich eingestehn, welche Bücher man jetzt liest? —
Dahn? Ebers? Ferdinand Meyer? — Ich habe Universitäts-Professoren diesen
bescheidenen Bieder-Meyer auf Unkosten Gottfried Kellers loben hören. Verma-
ledeiter Instinkt der Mediokrität!" Zu N. und Keller vgl. auch NK KSA 6, 430,
12-15 u. Groddeck / Morgenthaler 1994, zu dieser Stelle ebd., 120.
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104, 12-15 Aber dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend
beinahe: nirgendswo sind die zwei grossen europäischen Narcotica, Alkohol und
Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden.] Nach den Zahlen, die N. bei
Richet 1884, 106 zu den verheerenden Folgen des Alkohols fand, wurden die
herzieht: „Es ist in jüngster Zeit viel von der Gleichgültigkeit des Staates gegen
die Literatur geredet worden. / Dass Fürst Bismarck eine Brochüre über Korn-
zölle für wichtiger hält, als die bedeutsamste Dichterschöpfung, daran kann
kein Zweifel sein. Doch wollen wir von dem Schiedsrichter Europa's nicht ver-
langen, dass er Musse finde, der Literatur ein besonderes Interesse zu widmen.
Einer höheren und freieren Auffassung der Dinge, welche die Entwickelung des
Menschengeistes als das einzig Wesenhafte und Dauernde in dem flüchtigen
Nebeltanz der ephemeren äusseren Ereignisse auffasst, mag freilich eine origi-
nale Dichterthat wichtiger erscheinen, als alle realen Vorgänge. Nehmen wir
aber die stricte Thatsache, dass dem preussischen Mandarinenthum die ganze
Poesie als etwas ebenso Ueberflüssiges wie Plebejisches gilt, in ihrer ganzen
Schärfe hin. Die Sympathie oder Antipathie der Staatsgewalt wird einem von
der Würde und Grösse seines Berufes durchdrungenen echten Dichter
auch vollkommen gleichgültig sein." (Bleibtreu 1886b, 73, sehr ähnlich Bleib-
treu 1886a, 73) Später fügt Bleibtreu 1886b, 79 noch hinzu: „Der Reichskanzler
nennt Gelehrte und Schriftsteller nationalökonomisch ,unproductiv'. Vielleicht
hat das ideal productive Wirken der deutschen Dichter es ihm mit ermöglicht,
die so lange vorbereitete Einigung Deutschlands an seinen Namen zu knüp-
fen." Da N. die zeitgenössischen Dichter geringschätzt, die Bleibtreu gerade
wenn sie als Realisten und Naturalisten auftreten, für die Wegbereiter der
Zukunft hält, kann er in einer ironischen Übersteigerung im Dienste der
Umwertung ausgerechnet den erklärten Feind aller dichterischen Bemühun-
gen, eben Bismarck, zum einzig valablen deutschen Schriftsteller und Denker
der Gegenwart ausrufen.
104, 8 f . Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest?...
Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit!] Konkreter wird NL 1888, KSA 13,
19[1]: 540, 15-19: „Sollte ich eingestehn, welche Bücher man jetzt liest? —
Dahn? Ebers? Ferdinand Meyer? — Ich habe Universitäts-Professoren diesen
bescheidenen Bieder-Meyer auf Unkosten Gottfried Kellers loben hören. Verma-
ledeiter Instinkt der Mediokrität!" Zu N. und Keller vgl. auch NK KSA 6, 430,
12-15 u. Groddeck / Morgenthaler 1994, zu dieser Stelle ebd., 120.
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104, 12-15 Aber dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend
beinahe: nirgendswo sind die zwei grossen europäischen Narcotica, Alkohol und
Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden.] Nach den Zahlen, die N. bei
Richet 1884, 106 zu den verheerenden Folgen des Alkohols fand, wurden die