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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0396
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Stellenkommentar GD Deutschen, KSA 6, S. 104 377

Deutschen im Alkoholmissbrauch nur von den Briten übertroffen: „D'apres des
statistiques qui ne meritent peut-etre pas grande confiance, les exces de bois-
son tuent chaque annee une moyenne de 50,000 personnes en Angleterre, de
40,000 en Allemagne, de 25,000 en Russie, de 4,000 en Belgique et seulement
de 2,000 en France." („Nach Statistiken, die womöglich kein großes Vertrauen
verdienen, tötet der übertriebene Konsum von Alkohol in England jährlich
50'000 Personen, in Deutschland 40'000, in Russland 25'000, in Belgien 4'000
und in Frankreich bloß 2'000.") Die üblen physischen und intellektuellen
Beeinträchtigungen durch Alkoholismus werden bei Richet 1884, 92-108 einge-
hend geschildert (vgl. zur genaueren medizinischen Symptomatologie der
„Alkoholvergiftung" auch Kunze 1881, 497-502). N. hat bei seiner Richet-Lek-
türe einige Lesespuren hinterlassen.
Freilich war das Problem N. schon vor der Richet-Lektüre klar, vgl. FW 134,
KSA 3, 485, 29-486, 4 und FW 147, KSA 3, 492, 19-23 sowie M 50, KSA 3, 54,
22-55, 24. Für die beiden letzten Stellen nennt Orsucci 1996, 173 f., Fn. 54 Hell-
wald 1877a, 2, 689 als Quelle, wo freilich nur von der Interaktion von Christen-
tum und Branntwein bei der Missionierung außereuropäischer Völker die Rede
ist. Die Assoziation von Christentum und Alkoholismus findet sich auch in AC
60, KSA 6, 250, 3 f., GM III 26, KSA 5, 408, 4-16 sowie in JGB 252, KSA 5, 195,
30-196, 5, dort im Blick auf die Engländer, die nach Richets Statistik für den
Alkoholmissbrauch ja noch anfälliger sind. Dass Religion als Narkotikum dient,
hatte N. z. B. bei Herrmann 1887, 218 lesen können: „Als Berauschungsmittel
der Seele sind die religiöse Schwärmerei und die Liebe zu betrachten. [...] / Die
religiöse Schwärmerei ist wirthschaftlich als eine Anleihe zu betrachten, wel-
che an das Jenseits gemacht wird und die Schmerzen und Kümmernisse des
Diesseits leichter ertragen hilft. Aber so wie die Narcotica wirkt auch sie entner-
vend." (Kursiviertes von N. unterstrichen; die letzten beiden Sätzen von ihm
mit Randstrich markiert).
104, 19-28 Wie viel verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock,
wie viel Bier ist in der deutschen Intelligenz! Wie ist es eigentlich möglich, dass
junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten In-
stinkt der Geistigkeit, den Selbsterhaltungs-Instinkt des Geistes in
sich fühlen — und Bier trinken?... Der Alkoholismus der gelehrten Jugend ist viel-
leicht noch kein Fragezeichen in Absicht ihrer Gelehrsamkeit — man kann ohne
Geist sogar ein grosser Gelehrter sein —, aber in jedem andren Betracht bleibt
er ein Problem.] Vgl. die Fassung in NL 1887, KSA 12, 10[56], 485, 16 f. (KGW IX
6, W II 2, 102, 16-18), welche die Kritik am notorischen Alkoholismus deutscher
Gelehrter mit einer Kritik am romantischen Konzept der Ahnung verbindet.
„Man muß beinahe Jude sein, um als Deutscher nicht zu ahnen." Die defini-
tive Fassung wird durch das Offenlassen einer Antwort auf die Frage, woran
 
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