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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0413
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394 Götzen-Dämmerung

habe das „retour ä la nature", die Rückkehr zur Natur gepredigt und die Zivili-
sation als moralisches Verderbnis angesehen. Die Wendung „in impuris natu-
ralibus" („in unreinen Naturdingen") ist eine ironische Umkehrung des scho-
lastischen Ausdrucks „in puris naturalibus" („in reinen Naturdingen", d. h.
noch nicht durch die Gnade geläuterte Geschöpfe, z. B. bei Thomas von Aquin:
Summa theologiae I 62, 3 u. II 2, 5, 1, vgl. Laarmann 1993, 1049 bzw. Büchmann
1882, 427). Die Umkehrung „in impuris naturalibus" stellt nur in der Anwen-
dung auf Rousseau eine Innovation N.s dar; sie kommt ansonsten beispiels-
weise in einem Brief von Nikolaus Lenau an Max von Löwenthal vom 27. 06.
1840 vor, wo es über den „kecke[n] Verstand" einer Bekannten heißt, er laufe
„ohne die Disziplin der rechten weiblichen Sitte oft nackt, in puris naturalibus
oder vielmehr in impuris naturalibus herum" (Lenau 1990, 6, 138). Nach N.
macht die Wendung „in impuris naturalibus" Karriere; sie kehrt etwa — zur
Beschreibung weiblicher Nacktheit — in D. H. Lawrences Lady Chatterley's
Lover von 1928 wieder (Lawrence 2002, 261).
N. lehnt Rousseau, den er mit Moralismus, Revolution und Pöbelhaftigkeit
assoziiert, in den meisten seiner einschlägigen Äußerungen schroff ab, vgl. NK
150, 9-21. Zum divergierenden Naturverständnis von N. und Rousseau vgl. Jor-
dan 2006, 258-275, zum Wandel von N.s Rousseau-Bild bis hin zum Lieblings-
hassobjekt Klaiber 2009 und Wuthenow 1989.
111, 5 f. Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen.] Das Urteil spielt
auf Schillers als aufdringlich empfundenen Moralismus ebenso an wie auf
Joseph Victor von Scheffels (1826-1886) heiteres Gedichtepos Der Trompeter
von Säkkingen. Ein Sang vom Oberrhein (Stuttgart 1854), das nach Jahren gerin-
ger Beachtung im willhelminischen Deutschland zum Erfolgsbuch wurde, weil
es deutsch(tümelnd)en Nationalstolz und zugleich Weltläufigkeit im Kostüm
einer längst vergangenen Epoche ebenso beredt zum Ausdruck brachte, wie es
dem bürgerlich-moralischen Selbstverständnis und der Sehnsucht nach biede-
rer Idylle entgegenkam, vgl. EH WA 1, KSA 6, 358, 8-11: „Als ich das letzte Mal
Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack bemüht, Wagnern
und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn".
Scheffels barocke Geschichte erzählt vom jungen Werner, dem nach einer
weitläufigen Fahrt, die ihn zum Musiker bildet, die vornehme Herzensdame
endlich aus den Händen des Papstes zuteil wird — einschließlich der Erhebung
in den Adelsstand. Als Allegorie auf Schillers Aufstieg wird sie sich freilich nur
mit Mühe lesen lassen. Eine nähere Beziehung Schillers zu (Bad) Säckingen in
Südbaden ist nicht nachzuweisen. Die Titel-Parodie in 111, 5 f. als wenig zahme
Xenie dient N. dazu, Schiller in die Ecke des leeren moralisch-nationalistischen
Pathos abzuschieben, das bei der großen, nicht differenzierungsfähigen Masse
Anklang findet. 111, 5 f. bereitet die in 122, 1-3 vorgenommene Trennung von
 
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