Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0452
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 117 433

Literatur wurde eifrig diskutiert, ob Raffael (1483-1520) seinen religiös-christli-
chen Themen innerlich eigentlich indifferent gegenübergestanden habe (vgl.
schon MA II WS 73, KSA 2, 585 f.) und womöglich gar kein wirklicher Christ
gewesen sei. Eine Übersicht über die verschiedenen Positionen findet sich in
einem Artikel für die Revue des deux mondes von Emile Michel, den N. gelesen
haben könnte (Michel 1887, 392-395). Hehn 1888, 131 sprach vom „weltlich
ausgearteten Rafael", während es in NL 1888, KSA 13, 14[117], 295, 9-12 (korri-
giert nach KGW IX 8, W II 5, 103, 24-30) heißt: „die Künstler, wenn sie etwas
taugen, sind stark auch [sic?] leiblich angelegt, überschüssig, Kraftthiere, sen-
suell; ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems ist kein
Raffael zu denken".
Bereits in Jacob Burckhardts Cicerone galt Raffael als „so überaus starke
und gesunde Seele" (Burckhardt 1869a, 3, 903). Bei Burckhardt erscheint Raf-
fael als ein Prototyp des Renaissance-Willensmenschen: „Der Papst berief ihn
1508 nach Rom, wo er die zwölf noch übrigen Jahre seines kurzen Lebens
hindurch jene unbegreiflich reiche Thätigkeit entfaltete, die als moralisches
Wunder einzig dasteht. Nicht die Höhe des Genies, sondern die Gewalt der
Willenskraft ist das grösste daran; jene hätte ihn nicht vor der Manier
geschützt; diese war es, die ihn nie auf den Lorbeern ausruhen, sondern stets
zu höhern Ausdrucksweisen emporsteigen liess." (Ebd., 910) Raffael ist denn
auch am Ende von Burckhardts langen Ausführungen über ihn derjenige
Künstler des 16. Jahrhunderts, der der Gegenwart am nächsten stehe: „Das ist
es ja überhaupt, was uns Rafael so viel näher bringt als alle andern Maler. Es
giebt keine Scheidewand mehr zwischen ihm und dem Verlangen aller seither
vergangenen und künftigen Jahrhunderte. Ihm muss man am wenigsten zuge-
ben oder mit Voraussetzungen zu Hülfe kommen. Er erfüllt Aufgaben, deren
geistige Prämissen — ohne seine Schuld — uns sehr fern liegen auf eine Weise,
welche uns ganz nahe liegt. Die Seele des modernen Menschen hat im Gebiet
des Form-Schönen keinen höhern Herrn und Hüter als ihn. [...] Die höchste
persönliche Eigenschaft Rafaels war [...] nicht ästhetischer, sondern sittlicher
Art: nämlich die grosse Ehrlichkeit und der starke Wille, womit er in jedem
Augenblick nach demjenigen Schönen rang, welches er eben jetzt als das
höchste Schöne vor sich sah. Er hat nie auf dem einmal Gewonnenen ausge-
ruht und es als bequemen Besitz weiter verbraucht." (Ebd., 945).
Als „das homöopathische Christenthum" bezeichnet N. in NL
1887, KSA 12, 10[54], 484, 15 f. (KGW IX 6, W II 2, 101, 14), „das der protestanti-
schen Landpfarrer" und führt in NL 1888, KSA 13, 14[45], 240, 3-9 (korrigiert
nach KGW IX 8, W II 5, 167, 6-12, im Folgenden ohne durchgestrichene Passa-
gen wiedergegeben) aus: „Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum
gemacht! — Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe, wie viel Bier
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften